Nein, von der städtischen Betriebsamkeit ist im ländlichen Jovençan, wo das Maison des Anciens Remèdes steht, wahrlich nicht mehr viel zu spüren. Nur fünf Kilometer vom Regionalzentrum Aosta entfernt prägen vor allem Apfelplantagen, die Rinder- und Schafzucht sowie die Weinberge die norditalienische Provinz. Weit kann das Auge unter den Berggipfeln schweifen. Doch auch direkt am Wegesrand gibt es einiges zu entdecken: Hier wachsen nämlich einheimische Heilpflanzen wie die entzündungshemmende Berg-Arnika, der verdauungsfördernde Enzian, das reinigende Langsporn-Veilchen oder das hochgiftige Anti-Läusemittel Nieswurz – kein Wunder, hat die Verwendung von alpinen Blumen und Kräutern eine lange Tradition im Aostatal.

Gegen das Vergessen

Von Generation zu Generation wurde das lokale Wissen über Pflanzenarten und ihre wohltuenden Eigenschaften weitergeben. Fesselnde Geschichten ranken sich um die lokalen HeilerInnen mit ihren Rezepten und Anwendungen. Allerdings drohen diese Volksbräuche und Legenden mittlerweile in Vergessenheit zu geraten. Aus diesem Grund wurde 2011 das Maison des Anciens Remèdes (Haus der alten Heilmittel) eröffnet: Als Zentrum für Heilpflanzen und ihre Verwendung bewahrt es regionaltypische therapeutische Praktiken und Kenntnisse – und vermittelt sie an BesucherInnen: So wächst auch bei diesen im Alltag wieder die Lust, bei gesundheitlichen Problemen vermehrt Naturprodukte und Hausmittel einzusetzen.

Interaktive Elemente bereichern die Ausstellung im Maison des Anciens Remèdes.
Interaktive Elemente bereichern die Ausstellung. © Vallée D’Aoste

Sanft renoviert

Das Maison des Anciens Remèdes steht mitten im Dorf Jovençan zwischen der Kirche und dem Rathaus. Ende des 17. Jahrhunderts erbaut, diente das Holz- und Steingebäude einst als Winterunterkunft für Tiere und später als Pfarrhaus. Dank sanfter Renovierung ist diese ursprüngliche Architektur zwar immer noch sichtbar. Heute dient das Haus mit viel Glas und Innentreppe jedoch als Treffpunkt für alle, die sich für die ländliche Heilkultur und das zugehörige Terroir interessieren; der grosse Aufzug macht es auch für Gäste mit Beeinträchtigung zugänglich. Kompetente Guides führen Kinder und Erwachsene mithilfe multimedialer und interaktiver Hilfsmittel durch verschiedene Themenfelder, wobei die FührerInnen auf den Routen auch mal in die Rolle der Blume Violetta oder der alten Dorfdame Lanta Melie schlüpfen. Auch die vielen getrockneten Blätter und Wurzeln im alten Laden, der Duft von ätherischen Ölen sowie der Besuch des Kosmetik- und Kräutermedizinlabors sorgen für unterhaltsame Sinneserlebnisse.

Ein mittelalterlicher Garten

Immer noch neugierig? Gleich vor der Haustür geht der grüne Reigen ungebremst weiter. Denn auch im zugehörigen Jardin des Anciens Remèdes wird die Vielfalt der Aostataler Pflanzenwelt auf eindrückliche Weise aufgezeigt. Das von der lokalen Ethnobotanikerin Giuseppina Marguerettaz konzipierte Areal umfasst etwa 2000 Quadratmeter, wobei der Gemüsegarten nach dem Vorbild mittelalterlicher Klöster das Herzstück bildet. Auf der kreuzförmig angelegten Fläche finden sich entsprechend viele seit Jahrhunderten kultivierte Gewächse, aber auch neuere Hybriden. BesucherInnen stossen unter anderem auf Zwiebeln mit Luftfrüchten oder einen mehrjährigen Sellerie. Auch der lokale Varico-Thymian, der als Grundlage des berühmten Schweizer Ricola-Bonbons dient, gedeiht im Garten bestens. Wer hier lustwandelt, begibt sich so einerseits auf eine Zeitreise durch vergangene Epochen und bekommt gleichzeitig einen spannenden Einblick in die sozialen Einflüsse und klimatischen Veränderungen in der Gegend.

Vielfalt im Jardin des Anciens Remèdes. © Vallée D’Aoste

Im Weinberg unterwegs

Nach so vielen spannenden Details in der Nähe lohnt es sich, nun wieder etwas fernere Ziele anzupeilen: Schliesslich sorgt der Frühling im Aostatal für eine sanfte Farbenvielfalt in der alpinen Landschaft, und auf Spaziergängen und Wanderungen lässt sich diese bunte Palette wunderbar geniessen. Die Auswahl vor Ort reicht dabei von kürzeren, leichten Wegen bis zur anspruchsvollen Route für Trittsichere und Schwindelfreie. Gleich beim Maison des Anciens Remèdes beginnt zum Beispiel die einfache Ru d’Arbérioz-Runde, welche durch Weinberge und Wälder führt. SpaziergängerInnen folgen dabei streckenweise dem Kanal Ru d’Arbérioz, dessen Geschichte und Funktion auf Infotafeln erläutert wird. Weitere Zwischenstationen sind das Dorf Turille, ein Aussichtspunkt mit spektakulärem Bergpanorama und der Steinbruch Pompiod. Nach knapp sechs Kilometern ist der Ausgangspunkt beim Maison des Anciens Remèdes wieder erreicht – wahrlich ein heilsamer Abschluss des Ausflugs.

www.anciensremedesjovencan.it
www.lovevda.it