Endlose Stoffbahnen, über sanfte Hügel erstreckt: Dieser Anblick ist rund um St. Gallen überraschend und vertraut zugleich. Vertraut, weil die Ostschweiz über eine lange Textilgeschichte verfügt und draussen zum Trocknen ausgebreitete Stoffbahnen einst zum Alltag der Region gehörten. Überraschend, weil diese Tradition heute eine völlig neue Wendung erhalten hat. Seit einem Jahrzehnt präsentiert sich ein ausgelegtes Tuch nämlich als soziale Skulptur, welche die Menschen zum gemeinsamen Anpacken und Absitzen animiert.

Arbeit rund ums «weisse Gold»

Bereits im Mittelalter stellten die St. Galler Leinwand von hoher Qualität her. Ab dem 13. Jahrhundert deckten Zünfte alle Produktionsstufen der Flachsverarbeitung ab – vom Anbau über das Spinnen bis zum Weben, Bleichen und Veredeln. Das Gewerbe rund um die Leinenfasern sorgte damit für Zehntausende Arbeitsplätze und mauserte sich zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige. Das Resultat dieser lokalen Wertschöpfung war dabei weit herum sichtbar: Die zum Bleichen auf Hügeln oder Strassen ausgelegten Stoffbahnen nannte man «das weisse Gold». Ab dem 18. Jahrhundert verlor die Flachsindustrie dann zwar an Bedeutung in St.Gallen. Mit Baumwollverarbeitung und Stickerei blieb die Region jedoch den Stoffen treu.

Neue Tradition mit Vision

Buchstäblich an die hiesige Textiltradition angeknüpft haben die beiden Künstler Frank und Patrik Riklin. Mit ihrem Bignik-Konzept verwebt das Duo vom St. Galler «Atelier für Sonderaufgaben» nämlich das historische Erbe rund um den Stoff mit einem spannenden Langzeit-Prozess: Bignik steht für ein gewaltiges Picknicktuch, das über die Jahre immer grösser wird. Initiiert wurde es von der Regio Appenzell AR-St. Gallen-Bodensee im Rahmen von «Region als Bühne». Das stetig wachsende Picknicktuch soll ganz bewusst einen anderen Blick auf die Region ermöglichen und diese auf aussergewöhnliche Weise nach aussen sichtbar machen. Das ehrgeizige Ziel von Bignik ist, am Ende so viele Tücher wie EinwohnerInnen der Region zusammenzufügen. Bereits seit 2012 werden Stoffe von Vorhängen, Bettlaken oder Tischtüchern gesammelt, zugeschnitten und dann vernäht: Vier rötliche oder weissliche Tücher kombiniert man miteinander, sodass daraus weisse und rote Tuchmodule entstehen. Das neu interpretierte Picknicktuch umfasst mittlerweile über 2800 Module und kann eine Fläche von 20’000 Quadratmetern abdecken.

Bignik Degersheim
Bignik Degersheim © Image Video Flawil

Eine Frage der Auslegung

Stoffe horten ist das eine. Zur sozialen Skulptur wird die Picknickdecke aber erst, wenn man sie auch benutzt. Hier ermöglicht Bignik mit den Tuch-Auslegungen ein Performance-Format, an dem sich die Bevölkerung nach Lust und Laune beteiligen kann. Jeweils im Früh- oder Spätsommer breiten sogenannte «TuchlegerInnen» die Module wie ein gewaltiges Schachbrett im Freien aus. Danach lädt das temporäre Kunstwerk zum gemeinsamen Picknicken, bevor die Beteiligten alles wieder einsammeln. Für die Künstler und Urheber ist das Projekt damit kein Service Public, «sondern ein Public Service: Die Bevölkerung erschafft Bignik erst durch ihr Mitwirken», erklären Frank und Patrik Riklin. Nach Auslegungen auf Wiesen bei Wittenbach, am Hummelberg Hauptwil, am Rorschacherberg oder in den Dorfkernen von Trogen und Degersheim war Mitte Juni erstmals auch eine Auslegung in der St. Galler Innenstadt geplant.

Es geht auch kleiner

Im Rahmen des zehnjährigen Bestehens von Bignik können BesucherInnen im Textilmuseum St. Gallen die Sonderausstellung «Gut – der Anfang ist weisses Gold» besichtigen. Gezeigt wird der lange Werdegang der lokalen Tuchherstellung bis 2022, dazu gehört auch eine imposante Installation des Stoff-Designers Martin Leuthold. Für kleine, privatere Auslegungen hat St. Gallen-Bodensee Tourismus ausserdem das Angebot «Smallnik» geschaffen: ein originales Bignik-Modul zusammen mit einem gut gefüllten Picknick-Korb. Mit einem Teil des Gesamtkunstwerks lässt sich dadurch die Performance individuell weiterführen – und der Sommer bleibt rot-weiss kariert.

www.bignik.ch

www.st.gallen-bodensee.ch