Perle inmitten von Giganten
Der Gran Paradiso ist einer von vier 4000ern, welche über die unzähligen Schätze des Aostatals wachen. Der gleichnamige Nationalpark feiert dieses Jahr sein hundertjähriges Bestehen.
Der Gran Paradiso ist einer von vier 4000ern, welche über die unzähligen Schätze des Aostatals wachen. Der gleichnamige Nationalpark feiert dieses Jahr sein hundertjähriges Bestehen.
Das Aostatal ist vielleicht die am meisten unterschätzte Region Italiens. Von Martigny über den San Bernardo kommend, lassen viele Reisende das idyllische Tal auf dem Weg ins Piemont links liegen. «Diese Situation ist grundsätzlich geschichtlich begründet», erklärt Laurette Proment, Marketing- Verantwortliche von Bike Tourisme. Bedingt durch die geografische Lage und die Passübergänge zwischen Frankreich und der Schweiz gelte die Region seit der Römerzeit nur als Zwischenstation nach einer beschwerlichen Alpenüberquerung. Dabei lohnt sich ein Abstecher in die autonome Region nur schon wegen der einzigartigen Naturpracht, die es in Hülle und Fülle zu entdecken gibt. Die höchsten Gipfel Europas geben sich hier ein Stelldichein: Der Mont Blanc, der Monte Rosa, das Matterhorn und der Gran Paradiso flankieren das Aostatal von allen Seiten und sorgen dafür, dass die Region am wenigsten Regentage in ganz Italien verzeichnet – Apulien ausgenommen.
In der Tat überrascht das Aostatal mit überraschend vielen Eigenheiten. So sprechen alle Einheimischen nicht nur fliessend Französisch, sondern im Gressoneytal auch Titsch, einen Dialekt, den die Walliser im 13. Jahrhundert aus der Schweiz «importierten». Und rund 70’000 Bewohner beherrschen nach wie vor Patois, eine alte franko-provenzalische Mundart, welche kurioserweise mit einigen Wörtern Spanisch gespickt ist. Uralte Traditionen wie das Anfertigen der typischen Holzschuhe aus Kiefernholz, der Sabots, werden in der kleinsten Region Italiens genauso liebevoll am Leben erhalten wie der tausendjährige Jahrmarkt von Sant’Orso, wo die Einheimischen ihr Handwerk zur Schau stellen.
Wer hätte erwartet, dass über 100 Burgen und Schlösser auf Felsvorsprüngen thronen und über das Aostatal wachen? Die meisten davon finden sich im Haupttal, wo nach Norden und Süden jeweils 13 Hochtäler abzweigen, jedes für sich mit einem ganz eigenen Charakter. Doch alle sind ein wahres Eldorado für Wanderer – und für Biker: Die Bandbreite reicht von Einsteigertouren in Talnähe bis hin zu hochalpinen Routen mit langen Singletrails durch unberührte Natur; sei es mit viel Flow oder steil und technisch, naturbelassen oder «geshaped». Derweil ist die Beschilderung der Wanderwege so vorbildlich, dass Wanderer problemlos auf eigene Faust und ohne Wanderkarte losziehen können. Belohnt wird man durch ein authentisches Bergerlebnis, schliesslich zählt das Aostatal (noch) nicht zu den überlaufenen Wandergebieten der Alpen.
Ein besonders schöner Abstecher führt an Obstplantagen und Rebbergen vorbei durch das Cogne-Tal in die gleichnamige Ortschaft. Am Rande des pittoresken Dorfes erstreckt sich die grosse Bergweide Saint Ours – und dahinter erhebt sich majestätisch die steil abfallende Felswand des Gran Paradiso mit seinen 4061 Metern Höhe. Ziel der Wanderung sind die Wasserfälle von Lillaz ganz in der Nähe. Gewaltige Wassermassen stürzen schäumend und tosend in drei Stufen über die steilen Felswände. An den Bergwänden des Monte Creya sind zudem die ehemaligen Minen für Magnetit-Abbau in Liconi, Colonna und Costa del Pino noch gut zu erkennen. «Sie gehen auf die Zeit der Salassi und der Römer zurück. Der Abbau wurde bis 1979 betrieben, als die Minen offiziell geschlossen wurden», gibt Mountain-Guide Stefano Tranelli Auskunft. Bis zu jenem Zeitpunkt seien die Minen auch der grösste Arbeitgeber der Region gewesen – jeder vierte Einwohner von Cogne habe hier gearbeitet.
Cogne gilt auch als Eingangstor zum Nationalpark Gran Paradiso, dem ersten offiziellen Nationalpark Italiens. Das Parkgebiet umfasst eine Gesamtfläche von 70’000 Hektaren und reicht bis hinauf zum Gipfel des mächtigen Gran Paradiso. 1856 erklärte König Vittorio Emanuele II. einen Teil des heutigen Parkgebiets zum königlichen Jagdschutzgebiet – und rettete so den alpinen Steinbock vor dem Aussterben. Denn die Jagd auf den «König der Berge» sollte fortan nur noch dem Herrscher selbst erlaubt sein – und dieser frönte seinem Hobby fast schon exzessiv. So verdankt der Steinbock sein Überleben in den Alpen ironischerweise der königlichen Jagdleidenschaft. 1920 machte der König dem italienischen Staat die 2100 Hektare seines Jagdschutzgebietes zum Geschenk; mit der Auflage, dass daraus ein Nationalpark entstehen solle. Am 3. Dezember 2022 feiert der Nationalpark nun sein hundertjähriges Bestehen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Bestrebungen, Steinböcke in weiteren Gebieten des Alpenraums wieder anzusiedeln. Da der italienische König nicht das geringste Interesse zeigte, der Schweiz Tiere für die Zucht zur Verfügung zu stellen, wurden kurzerhand Wilderer angeheuert, die ab 1906 Steinbockkitze aus dem Gran Paradiso illegal in die Schweiz schmuggelten. Diese wurden im Tierpark Peter und Paul in St. Gallen aufgezogen und gezüchtet. So stammen alle Steinböcke der Schweiz von der Population im Gran Paradiso ab. Im Nationalpark leben heute zahlreiche weitere Tiere wie Murmeltiere, Wölfe, Füchse, Hermeline, Dachse, Wiesel und Marder sowie viele Vogelarten wie der Steinadler und diverse kleine Sperlingsarten. Für Touristen ist und bleibt aber der Steinbock die mit Abstand grösste Attraktion – denn nirgends im Alpenraum besteht eine grössere Wahrscheinlichkeit, den «König der Alpen» in der Wildnis anzutreffen.
Also wird die Probe aufs Exempel gemacht und in Begleitung von Giovanni Bracotto, stolzer Ranger des Nationalparks, eine mehrstündige Wanderung im Seitental Rhêmes unternommen. Der Pfad führt stetig bergauf, inmitten einer spektakulären hochalpinen Landschaft, den Steinböcken entgegen – übrigens auf einer Route, welche früher auch die Schmuggler auf ihrem Weg nach Frankreich nutzten. Nach zwei Stunden, auf mittlerweile 2200 Metern über Meer, werden die ersten Wanderer langsam ungeduldig, wollen endlich die stolzen Tiere erblicken – wenigstens mit dem Fernglas. Plötzlich hält der Ranger inne, legt den Zeigefinger auf die Lippen und zeigt in Richtung eines Steilhangs: Eine Gruppe von rund 50 Steinböcken befindet sich in unmittelbarer Nähe. In stoischer Ruhe beobachten die Tiere, wie sich die kleine Gruppe behutsam nähert – bis sie kaum mehr als 10 Meter trennen. Selbst der Ranger ist ergriffen: «Ungeachtet dessen, wie oft man diese stolzen Tiere sieht – der Anblick ist jedes Mal aufs Neue magisch.» Dies stimmt in der Tat: Beim Abstieg wird den zahlreichen Murmeltieren, welche fiepsend auf zwei Beinen stehen und die Wanderer nicht aus den Augen lassen, kaum mehr Beachtung geschenkt – wohl die bedauerliche Konsequenz, wenn man mit dem «König der Alpen» den Lebensraum teilt.
Doch trumpft das Aostatal nicht nur mit seiner Naturidylle auf; auch kulturell und historisch hat das Tal enorm viel zu bieten. In der Hauptstadt Aosta weisen überall Spuren der Vergangenheit auf die antike Pracht der Römerstadt Augusta Praetoria hin. Zu den wichtigsten Zeugnissen aus dieser Zeit gehören die Porta Praetoria, eines der wenigen römischen Stadttore weltweit, das noch vollständig erhalten ist. Und jede der über 100 Burgen und jedes der über 100 Schlösser im Tal hat einen eigenen Charakter und eine eigene Geschichte. Wer das kulturelle Erbe des Aostatals erwandern will, dem sei der Fernwanderweg Cammino Balteo empfohlen: Monumental-architektonische Zeitzeugen sind ständige Wegbegleiter; zu entdecken sind zahlreiche urige Dörfer und Weiler, Dorfkirchen und römische Brücken, Burgen und Schlösser. Zwischen Pont-Saint-Martin im Südosten und Morgex im Nordwesten erstreckt sich der 350 Kilometer lange Rundwanderweg durch 46 Gemeinden. Aufgeteilt ist er in 23 Tagesetappen, wobei jede Etappe auch als einzelne Wanderung zu erleben ist.
Wir nehmen die Route Nummer 17 unter die Sohlen – sie schlängelt sich zwischen Villeneuve und Aymavilles auf dem sogenannten «Schmetterlingsweg» entlang. Und diesem Übernamen wird die Route absolut gerecht, schliesslich sind 96 Schmetterlingsarten hier zu Hause, wie Mountain-Guide Stefano Tranelli erläutert. Diese Etappe des Cammino Balteo führt zur imposanten, im Jahre 3 v. Chr. erbauten römischen Aquäduktbrücke von Pond d’Ael über dem Grand-Eyvia-Fluss. Dieses rund 56 Meter hohe und 59 Meter lange Wunderwerk diente den Römern einst als Brücke und Wasserleitung zugleich: Aufgeteilt in zwei Ebenen ist im oberen Teil der Brücke der Kanal für den Wasserabfluss angebracht und im unteren Teil der rund ein Meter breite Durchgang für Mensch und Tier. Von April bis September kann das faszinierende Bauwerk täglich besichtigt und begangen werden.
Text & Bilder © Elisha Nicolas Schuetz