Der Mensch ist ein Homo narrans, ein erzählendes Geschöpf.» Das sagt Andreas Weissen. «Menschen lieben Geschichten.» Der Oberwalliser Sagenerzähler weiss, woraus sich eine gute Sage zusammensetzt: Sie berichtet von ausserordentlichen Ereignissen und Erlebnissen. Sie ist klar verortet: Sie spielt nicht wie ein Märchen in einem fernen Land, sondern in der direkten, bekannten Umgebung. So sind auch die Protagonistinnen und Protagonisten ganz normale Menschen, meist Bauern und Älplerinnnen. In vielen Alpsagen geht es um Naturkatastrophen: Lawinen gehen nieder, Felsen stürzen auf Alpen. Die Erzählung weist die Schuld an einem verheerenden Ereignis dem Mensch zu: Wegen seines Fehlverhaltens – weil er frevelt, weil er Grenzen überschreitet, weil er Sitten und Gebote missachtet – schlägt die Natur zu.

Die Sündenböcke

«Der Mensch sucht immer die Verantwortlichen», sagt Andreas Weissen. Das sei auch heute noch so, wenn beispielsweise nach einem Bergstutz erörtert werde, ob die Behörden früher hätten warnen und ob der Weg hätte gesperrt werden müssen. «Die Schuldfrage führt dazu, dass man Sündenböcke sucht – vom 15. bis ins 18. Jahrhundert beispielsweise die sogenannte Hexen, die wegen Wetterkapriolen verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurden.»

Während meist nur Kinder an Märchen glauben, können Sagen auch von Erwachsenen für wahr gehalten werden. Die einen denken sich, ein wahrer Kern sei schon an der Geschichte. Andere stützen sich darauf, dass ihre Eltern ihnen die Ereignisse so geschildert haben. Und wieder andere kennen die Nachfahren derer, denen das Unglaubliche zugestossen ist. Andreas Weissen hält es mit der Walliser Autorin Frieda Berchtold. Sie sagte: «Geschichten sind zum Erzählen da, nicht zum Glauben.»

Die grosse Abendunterhaltung

Geschichten zu erzählen war lange Zeit eine wichtige Abendunterhaltung: Wenn alle zusammen in der Stube sassen, im einzigen beleuchteten Zimmer, sprach man über dieses und jenes – bis jemand eine alte Geschichte oder eine besondere Gegebenheit vortrug. «Von der Kartoffelernte zu erzählen ist nicht spannend; aber wenn plötzlich alle gefüllten Kisten auf geheimnisvolle Weise wieder leer sind, dann schon», sagt Andreas Weissen. «Unheimliche, unerklärliche Ereignisse und Begegnungen faszinieren besonders.»

Wer eine Geschichte erzähle, könne die Realität verlassen und eine neue konstruieren. «Im Fabulieren kann man sich selber überhöhen oder kleiner machen, und man kann Ereignisse umdeuten.» Es zeige sich: «Wenn zwei das Gleiche erleben, erzählen sie es nicht gleich. Es gibt stets mehrere, subjektive Wahrheiten.»

Wiederkehrende Motive

Oftmals geht es in den Sagen um Begegnungen mit Wesen aus dem Totenreich. «Diese Geister brauchen die Hilfe der Lebenden, um zur Ruhe zu kommen.» Dieses Thema ist im ganzen Alpenraum weit verbreitet. Auch andere Motive kommen in mehreren Ländern vor: So gibt es von Frankreich bis Slowenien Sennen, die sich ein Tuntschi basteln und missbrauchen, das sich dann grausam an ihnen rächt. Oder Naturkatastrophen, die dem Fehlverhalten von Menschen zugeschrieben werden.

Typisch für das Oberwallis sind Sagen, die sich mit dem Tanz auseinandersetzen: Die katholische Kirche verbot das Tanzen, bei dem sich ja Männer und Frauen nahekommen konnten. Nur einmal im Jahr, an Fasnacht, wurde zum Tanz aufgespielt – unter behördlicher und kirchlicher Aufsicht. Die Jungen liessen sich den Tanz aber nicht nehmen, und so gab es immer wieder Tanzfeste im Verborgenen. «Die Pfarrer predigten darum vom Teufel, der das Männer- und das Weibervolk in Versuchung führe», sagt Andreas Weissen. Einmal habe sich der Böse als hübscher Jüngling getarnt, einmal als Frau. In der Regel konnten sich die Tänzerinnen und Tänzer in diesen Geschichten in letzter Minute retten. «Die Kirche hat diese Sagen benutzt, um die jungen Leute einzuschüchtern, jedoch mit wenig Erfolg.»

Die «richtige» Erzählung

Sagen werden erzählt und mündlich weitergegeben; damit verändern sie sich auch immer wieder. Ab 1800 wurden sie im deutschsprachigen Raum auch gesammelt und aufgeschrieben. Im Oberwallis erfassten die Pfarrer Moritz Tscheinen und Peter Joseph Ruppen 1872 eine erste Walliser Sagensammlung, um die Erzählungen für die Nachwelt zu erhalten. Und Josef Guntern hat 1974 ein Buch mit 2344 Walliser Sagen, Erzählungen und Legenden zusammengestellt. «Mit dem Aufschreiben wurden die Geschichten auch eingefroren», sagt Andreas Weissen: Mit einem Mal habe die Version im Buch als die einzig richtige gegolten, die nicht mehr verändert werden durfte.

Sagen spielen vor allem in der bäuerlichen Welt. Doch es gibt auch solche aus dem städtischen Milieu: «Diese contemporary legends sind Geschichten, die angeblich einem Freund eines Freundes zugestossen sind», sagt Andreas Weissen. Sie tauchten oft erstmals in den USA auf und würden einige Zeit später auch in Europa erzählt. Rolf Wilhelm Brednich hat Ende der 1980er-Jahre solch moderne Sagen im Buch «Die Spinne in der Yucca-Palme» festgehalten.

Bis der Fernseher kam

Gerade auf dem Land hatten die Leute lange Zeit kaum Möglichkeiten, sich abends ausser Haus zu vergnügen. Und so waren die gemeinsamen Abende in der Stube der Ort, an dem die alten Sagen weitererzählt und neue gesponnen wurden. Bis dann auch in den entlegenen Bergtälern der Strom Einzug hielt, und mit ihm Radio und Fernsehen. Seither befriedigen die Menschen ihr Bedürfnis nach Geschichten und Unterhaltung auf elektronische Weise. Aber Andreas Weissen ist zuversichtlich: «Das Erzählen und Erfinden von unheimlichen Geschichten wird weitergehen, solange Menschen sich treffen und miteinander sprechen.»

www.andreas-weissen.ch