Die Schweiz besteht aus vielen unterschiedlichen Regionen, die über Jahrhunderte ihre lokale Eigenart erhalten haben. Davon zeugen die vielen Dialekte, die heute leider vielerorts verschwinden. Wer gern in der Schweiz reist, weiss um die Vielfalt der Schweizer Bauernhäuser. Man kennt die typischen Engadiner Häuser mit den Rundbogentüren und der Sgraffito Malerei oder die typischen Tessiner Häuser mit ihren Steindächern. Die Berner Bauernhäuser ducken sich mit den grossen, behäbigen Dächern wie fette Hühner in die Landschaft. Die Walliser haben von der Sonne gegerbte Blockbauten und Speicher auf Stelzen mit grossen Steinplatten, die verhindern sollen, dass die Mäuse an die Vorräte gelangen. Ostschweizer Bauernhäuser sind geprägt von der Heimarbeit für die Textilindustrie und in Regionen, wo Bauern im Nebenberuf als Uhrmacher arbeiteten, erkennt man die Werkstätten an der Fensterfront im obersten Geschoss.

1959 erschien das vielbeachtete Buch «Häuser und Landschaften der Schweiz» des damals führenden Zürcher Volkskundlers Richard Weiss in erster Auflage. Es ist bis heute die «Bibel» der Schweizer Bauernhausforschung.

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Kompakte Informationen zu Schweizer Bauernhäusern bekommt man im Freilichtmuseum Ballenberg. Einzelne Bauernhaustypen kann man sich aber auch erwandern, beispielsweise im Simmental. Es öffnet sich vom Thunersee Richtung Westen und erstreckt sich in einem Bogen bis hinauf an die Lenk. Wer einige der schönsten Häuser im Tal sehen will, begibt sich auf den Simmentaler Hausweg, der als erster der drei Hauswege 1992 geschaffen wurde. 1995 folgte der «Obersimmentaler Hausweg» und 2001 der «Diemtigtaler Hausweg». Die drei Simmentaler Hauswege führen an über 100 stattlichen Bauernhäusern mit höchster Zimmermannskunst und farbiger Fassadenmalerei vorbei. Auffallend ist das weit vorragende Giebeldach, das die befensterte Fassade mit den reichen Verzierungen schützt. Ein typisches Beispiel für ein Simmentaler Doppelhaus ist das Agensteinhaus in Erlenbach. Beim Simmentaler Haus ist die unterste Etage meist aus Stein, die oberen Stockwerke sind aus Tannenholz. Man schlug das Bauholz im Februar, wenn jeweils wenig Saft im Holz ist. Rund 300 Tannen brauchte man für die 1000 Kubikmeter des Agensteinhauses, das für eine Grossfamilie gebaut wurde.

Das Agensteinhaus wurde vom bekannten Simmentaler Zimmermann Hans Messerli im Jahr 1766 erbaut. Das «Museum der alten Landschaft Niedersimmental» präsentiert in 16 Räumen neben der Zimmermannskunst und dem Alltagsleben vergangener Zeiten auch die Themen Fleckvieh- und Pferdezucht, Alpwirtschaft, Geologie, Urgeschichte und Simmentaler Käser in Diensten russischer Fürsten. Das Agensteinhaus verkörpert den gängigen Typ des dreistubenbreiten Zweigenerationenhauses. Es wurde in der Simmentaler Bauweise erstellt, die Ständer- und Blockbau harmonisch vereinigt. Obwohl es nicht mehr in der kurz zurückliegenden barocken Manier bemalt und beschriftet ist, gilt seine nach Süden ausgerichtete vollsymmetrische, stark gegliederte und verzierte Hauptfassade als ein Meisterwerk. Sehenswert ist auch der liebevoll gepflegte, barocke Garten.

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Hans Hofer, Lokalhistoriker und Organist, weiss alles um die Simmentaler Baukunst und betreut auch Führungen. Über eine Treppe gelangt man zur Haustüre und gleich in die grossen Rauchküche. Dort zieht der Rauch des offenen Feuers durch den weiten konischen Bretterkamin ab. Diese spärliche Belichtung der schwarzen Küche wird nachts durch eine Klappe geschlossen. Kein Wunder, gab es in den Holzhäusern Brände. Hans Hofer erzählt vom verheerenden Dorfbrand im Jahr 1765, dem 15 Häuser und 9 Scheunen zum Opfer fielen – während die Kirche verschont blieb. Glück im Unglück war die Tatsache, dass das Dorf zu dieser Zeit wegen der florierenden Pferde- und Viehzucht wohlhabend war und die Häuser schnell, qualitativ hervorragend und reich verziert wieder aufgebaut wurden. Neben dem Agensteinhaus tragen drei weitere ähnliche Bauten an der Hauptstrasse von Erlenbach die Handschrift von Hans Messerli. Sie fallen auch in die Phase des Wiederaufbaus nach dem Brand. Messerli richtete in seinen 86 Lebensjahren mehr als 285 Firste in der Umgebung auf.

Heute wie früher galt: Das Haus ist die dritte Haut der Menschen: Zuerst kommt die des Körpers, dann Kleider, danach Haus oder Wohnung. Die Körperhaut ist gegeben, aber Kleider und Wohnung decken die Grundbedürfnisse nach Schutz und Wärme ab und vor allem zeigt man mit ihnen, wer man ist und was man hat – dies spätestens, seit die Menschen sesshaft geworden sind. Die Simmentaler Häuser gehören mit ihrem reichen Formenschatz der Dekorationsmalerei und der Schriftbänder sowie mit ihrer einmaligen architektonischen Gestaltung zu den prachtvollsten Gebäuden im gesamten Alpengebiet. Durch die Berner Oberländer Täler führten vor Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecken mehr oder weniger wichtige Saumstrassen, beispielsweise durch das Simmental über den Jaunpass in die Westschweiz. Eine Folge der Lage an einer Saumstrasse war die Pferdezucht – und die Viehzucht, die Simmentaler Kühe sind weltweit bekannt. Viele der behäbigen und schön geschmückten Häuser der Dörfer im Simmental sind nicht reine Bauernhäuser, sondern Häuser von Menschen, die mit Säumerei  oder Viehhandel zu Wohlstand gekommen waren. Auch Kaufleute und Handwerker wie Hufschmiede und Sattler, deren Gewerbe in Zusammenhang mit der Säumerei stand, schafften es zu Wohlstand. Und die Zimmerleute brachten es mit dem Bau der typischen Simmentaler Häusern zu Ruhm und Reichtum.

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Hans Messerli schuf besonders schöne Fassaden. Unter «Fassade» versteht man die giebelseitige Schaufront eines Gebäudes, die meist talwärts oder zur Strasse hin gerichtet ist. Durch ihre exponierte Lage bietet sie eine ideale Fläche, um das handwerkliche Können des Zimmermeisters und die gesellschaftliche Position des Besitzers zur Schau zu stellen. Die Fassade eines traditionellen Simmentaler Hauses setzt sich aus gemauertem und getünchtem Sockel, Stuben- und Gadenwand, Giebeldreieck und Vordach zusammen. Zusätzliche Elemente können Lauben, Treppen oder Stubenanbauten sein. Das Stubengeschoss wurde als Ständerkonstruktion erbaut, die übrigen Geschosse in Blockbauweise. In der Fassade zeigen sich die funktionalen, die konstruktiven und die gestalterischen Ebenen. Konstruktive Bauteile wie der Schwellenkranz, die Fensterbänke, die Blockvorstösse oder die Blockkonsolen bieten die Grundlage für die verschiedenen Zierelemente der Schnitz- und Malkunst.
Schwellen- und Wandvorkragen verleihen der Fassade zusätzlich Plastizität.

Als Vorkragung bezeichnet man im Bauwesen das Vorspringen oder Hinausragen eines Bauteils über die Baufluchtlinie des Gebäudes hinaus. Pflanzliche Mustern wie Tulpen- oder Rankenfriese und geometrische wie Würfel- oder Bibliotheksfries Motiven erweiterten die Palette der Formen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlor die Fassadengestaltung mit Schwellen- und Wandvorkragen allmählich an Bedeutung. Es blieben der reiche Formenschatz und der Gebrauch virtuoser Zierfriese. 1981 entstand aus einem im Jahre 1974 gegründeten Initiativkomitee die «Stiftung Agensteinhaus». Diese erwarb das Kulturdenkmal und wandelte es innerhalb von sechs Jahren mit viel Herzblut und dank grosser Spenden zum Dorf- und Regionalmuseum um. Seit 1987 betreibt der Verein «Freunde des Agensteinhauses» das Museum. Engagierte Leute in ehrenamtlichen Funktionen – wie Hans Hofer – helfen, das Haus mit Ausstellungen und Anlässen zu beleben und als Ort für Begegnungen anzubieten.