Frau Tonella, wie haben Sie als Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums das Programm in den letzten drei Jahren beeinflusst?

Mir war es wichtig, auch das immaterielle Kulturerbe ins Programm aufzunehmen. Das war das letzte Jahr zum Beispiel der Fall mit der Ausstellung «Sprachenland Schweiz», bei der die Besuchenden erkunden konnten, wie sich die verschiedenen Sprachregionen der Schweiz seit dem Mittelalter entwickelt haben, welche Rolle die Landessprachen einnehmen und was die Mehrsprachigkeit heute bedeutet. Wir haben in den letzten zwei Jahren ausserdem neue museologische Wege erprobt: interaktive Spiele, neuartige digitale Technologien oder partizipative Projekte. Wichtige strategische Themen sind ausserdem die digitale Transformation und die Nachhaltigkeit in all ihren Dimensionen sowie eine verstärkte Publikumsforschung, die uns in den nächsten Jahren ermöglichen soll, die Wirkung unserer Arbeit besser zu messen und gezielter auf die Bedürfnisse der Gesellschaft einzugehen.

Sie stammen aus dem Tessin. Rückt die italienische Schweiz dadurch stärker in den Kulturdiskurs des Nationalmuseums, das in der Deutschschweiz und der Romandie beheimatet ist?

Als Tessinerin bringe ich ein wohl stärkeres Bewusstsein für die italienische Schweiz und ihre Rolle in der Schweizer Geschichte mit. Es ist mir in der Tat wichtig, dass bei unseren Themen das Tessin und die italienischen Täler Graubündens berücksichtigt werden. Letztes Jahr haben wir ein neues Format mit dem Titel «Erfahrungen Schweiz» eingeführt. Die Installation besteht aus einer grossformatigen Projektion mit Ton, kommt ohne Objekte aus und holt Stimmen der Bevölkerung zu Themen der Zeitgeschichte ins Museum. Im Mittelpunkt der ersten Ausgabe zum Thema «Italianità» standen die Berichte von zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unterschiedlicher Generationen und Herkunft. Das nächste Thema dieses Formats wird den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gewidmet sein.

Mit dem Internet sind heute fast alle Infos im Netz zu finden. Sehen Sie das Internet als Konkurrenz zu den heutigen Museen? Was leistet ein Museum im 21. Jahrhundert noch?

Viele Museen in der Schweiz, darunter auch das Landesmuseum, haben letztes Jahr Rekordeintritte verzeichnet. Geschichte im Raum zu erleben, bleibt eine Erfahrung, die durch das Konsumieren von Informationen im Internet nicht ersetzt werden kann. Echte Objekte und Werke zu betrachten und Geschichte gemeinsam mit anderen Menschen physisch zu erleben ist etwas, das Menschen weiterhin suchen und schätzen. Digitale Formate wie Online-Artikel, Videos oder Podcasts sehen wir als Chance, Schwellenangst abzubauen oder unsere Inhalte an Menschen zu vermitteln, die nicht ins Museum kommen können. Ausserdem kann der digitale Raum auch eine nützliche Ergänzung unserer Angebote darstellen.

Erweiterungsbau des Landesmuseums. © zVg
Inwiefern wird im Schweizerischen Nationalmuseum auch Schweizer Identität verhandelt?

Bei jedem historischen Thema lässt sich Identität und deren Vielfalt verhandeln. Die Ausstellung «Zum Geburtstag viel Glück. 175 Jahre Bundesverfassung», bei der wir letztes Jahr auf wichtige Grundrechte fokussiert haben, lud die Besuchenden dazu ein, sich mit den identitätsbildenden Aspekten des 1848 gegründeten Bundesstaates und seiner Weiterentwicklung bis heute auseinanderzusetzen. Schweizer Identitäten, denn es sind immer mehrere, werden auch dieses Jahr ab September in der Ausstellung «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» thematisiert. Die Ausstellung bricht mit langjährigen Vorstellungen einer Nicht-Beteiligung der Schweiz am Kolonialismus und stellt Fragen an das Bild, das wir von der Schweiz haben. Uns interessiert es, bei solchen Themen mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen und Möglichkeiten für Dialog und Austausch im Museum zu schaffen.

Die Ausstellung «begehrt. umsorgt. gemartert.» dreht sich um Körper im Mittelalter. Wie hilft uns dieses Wissen, unsere eigenen Körperbilder zu reflektieren?

Es ist wichtig, hin und wieder einen Blick zurück zu werfen und zu schauen, wie sich vergangene Epochen mit Themen befassten, die uns heute beschäftigen. Der Körper, seine Optimierung, der Wunsch nach Verjüngung, unsere Gesundheit und Ernährung, Sport, die Fragen der sexuellen Orientierung: All das sind Themen, die auch im Mittelalter ihre Relevanz hatten. So ist zum Beispiel unser Bedürfnis nach Jugendlichkeit nicht neu und auch im Mittelalter waren graue Haare unerwünscht – wie uns ein Haartraktat überliefert. Und schaut man genau hin, so beschäftigte sich das Mittelalter fast noch mehr mit Fragen zum Körper, als wir es heute tun.

Gibt es auch von Frauen verfasste Quellen aus dem Mittelalter zum Thema Körper?

Es gab im Mittelalter nicht nur männliche Gelehrte, sondern einige hoch gebildete Frauen, die sich nicht nur zum menschlichen Körper im Allgemeinen, sondern auch mit einer eigenen Meinung über ihren Körper und ihr Geschlecht geäussert haben. Von der wohl berühmtesten und bekanntesten Ordensfrau Hildegard von Bingen (1098–1152) sind ausführliche Überlegungen zum Körper, der Geschlechtlichkeit und Sexualität überliefert. Auch das Wissen der an den Medizinschulen ausgebildeten Ärztinnen aus Salerno oder den Hebammen zur Frauenheilkunde wurde niedergeschrieben, allerdings oft von Männern.

2023 war für viele Museen ein besonders besucherstarkes Jahr. Das Landesmuseum stellte mit 312’000 Eintritten einen neuen Rekord auf. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?

Das Landesmuseum ist bei Touristinnen und Touristen sehr beliebt, darum wirkte sich der positive Trend bei den Logiernächten auch auf unsere Eintrittszahlen aus. Darüber hinaus bot das Museum ein Programm, dass sich an viele verschiedene Personengruppen richtete. Vom «Sprachenland Schweiz» über die «Rote Zora und Schwarze Brüder» bis zum neuen Format zum Thema Italianità war für alle etwas dabei. Dazu kam das grosse Jubiläumswochenende zum 125. Geburtstag des Landesmuseums, das ebenfalls viele Besuchende anlockte. Für einen Museumsbesuch spricht meines Erachtens aber auch, dass man mit der ganzen Familie gehen und sich während des Besuchs unterhalten kann. Eine Reihe von Angeboten von der Museumsboutique bis zum Restaurant, von den Veranstaltungen bis zu den Führungen machen das Museum zum Begegnungsort par excellence.

Wo sehen Sie die Zukunft des Nationalmuseums? Welche Themen werden in den nächsten Jahren besonders zentral sein?

Wir sind eine Institution im Dienst der Gesellschaft und werden auch in Zukunft mit allen unseren Angeboten und Aktivitäten versuchen, Schweizer Geschichte zu vermitteln und uns mit dem Publikum über relevante Gegenwartsfragen auszutauschen. In der heutigen Welt bleibt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zentral für das Verständnis der Gegenwart. Zu den wichtigsten Themen dieses und der nächsten Jahre gehören die kolonialen Verflechtungen der Schweiz, die Geschichte der Banken und des Krieges. Aber auch Subkulturen, die mentale Gesundheit oder der Umgang mit unseren Ressourcen werden Platz im Programm finden. Dies alles im Bestreben, kulturelle Teilhabe, gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie Kreation und Innovation zu fördern.