Sie gehören mittlerweile zu den Alpen wie die Berge an sich: die Gipfelkreuze. Für viele AlpinistInnen sind sie das Symbol für das Erreichen ihres Ziels, schliesslich gehört zum perfekten Gipfelmoment das obligate Foto mit Bergsteiger und Kreuz. Für manche ist es lediglich ein Orientierungspunkt, für andere wiederum ein religiöses Zeichen voller spiritueller und historischer Symbolik. Den meisten Menschen ist das Gipfelkreuz wohl schlicht egal, es gehört halt einfach auf einen Berg.

Mythen und Legenden

Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass überall in den Alpen Kreuze die Gipfel schmücken – und ist dies wirklich Schmuck oder vielmehr religiös aufgeladene Machtsymbolik?

Daran scheiden sich die Geister. Wohl eher im Reich der Mythen und Legenden anzusiedeln ist die erste bekannte Erwähnung eines Kreuzes auf einer Anhöhe: So soll Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, ein Kreuz 327 n. Chr. in Jerusalem gefunden und es nach Zypern transportiert haben, wo es angeblich auf keinem geringeren Gipfel als jenem des Olymps platziert wurde. Entspräche dies den Tatsachen, schmückte den Olymp das heute übliche Passionskreuz, Crux immissa, bevor dieses ab dem 4. Jahrhundert überhaupt die ursprünglichen Symbole des frühen Christentums, das Staurogramm und das Christusmonogramm, offiziell «abgelöst» hatte.

Nachprüfen lässt sich dies freilich nicht. Fakt ist derweil, dass im 11. Jahrhundert die Kreuzfahrer auf ihrem Weg ins Heilige Land Eisenkreuze auf Anhöhen errichteten; nebst der religiösen Symbolik wohl auch zur Orientierung. Quasi spirituelle Wegweiser, damit Reisende innehalten und für die Sicherheit auf ihrer Reise beten konnten.

Gipfelkreuz auf dem Urner Rotstock
Gipfelkreuz auf dem Urner Rotstock. © Shutterstock

Madonna in Südtirol

Die Geschichte der Gipfelkreuze in den Alpen beginnt vor 700 Jahren: Ende des 13. Jahrhunderts wurden an verschiedenen Pässen und Anhöhen vereinzelt mächtige Kreuze errichtet. Urkundlich erwähnt ist als erstes Gipfelkreuz gegen Ende des 13. Jahrhunderts – das Confin-Kreuz auf der Malser Heide in Südtirol.

Zu Beginn hatte das Gipfelkreuz wohl einen rein religiösen Hintergrund, wie dies in den Bergen Südtirols zu erkennen ist, denn dort waren auch oft Madonnenstatuen auf den Gipfeln zu finden. Ein frühes Beispiel der Anbringung von grossen, bis ins Tal hinab sichtbaren Kreuzen war auch die Erstbesteigung des Mont Aiguille 1492, wo drei Kreuze an den Ecken des Gipfelplateaus angebracht wurden. Angeblich war König Karl VIII. von Frankreich während einer Pilgerreise dermassen beeindruckt von diesem Berg, dass er vermutete, Engel würden ihn umkreisen. Alsdann schickte er seinen Kammerherrn und Militäringenieur Antoine de Ville los, um den Berg zu besteigen. Dieser nahm zehn Kletterer, darunter einen Steinmetz, einen Tischlermeister und einen Priester, mit in den Schlepptau.

Engel oder andere himmlische Wesen entdeckte die Gruppe zwar nicht, dafür hielt sie eine Messe ab und stellte die drei prächtigen Kreuze in jedem Winkel des Gipfelplateaus auf.

Mit Steinen gefüllt und einer buddhistischen Gebetsfahne versehen: die Kreuzspitze. © Shutterstock

Im Dienst der Wissenschaft

Das Bild eines Kreuzes auf Hügeln oder Berggipfeln wurde zu einem beliebten Motiv bei romantischen Künstlern, und deren Werke inspirierten wiederum Menschen, Expeditionen zu gründen, um neue Kreuze in halb Europa zu errichten. Mit der Zeit dienten die Kreuze auf den Anhöhen aber mehr als Grenzmarkierung denn als religiöse Zeichen; sie fungierten primär als Markierung von Alm- und Gemeindegrenzen.

Und sie ersetzten heidnische Bräuche: So glaubten die Menschen, die Kreuze böten Schutz vor Gewitter, Sturm und Hagel. Gipfelkreuze, wie wir sie heute kennen, wurden in den Alpen erst ab dem 19. Jahrhundert im Zuge des aufkommenden Alpinismus errichtet. Nicht nur zur «Ehre Gottes», sondern auch als Symbol der Aufklärung, als weltliches Machtsymbol, als Zeichen einer Erstbesteigung oder zum Anbringen wissenschaftlicher Messinstrumente und von Blitzableitern. Damals war man auch bestrebt, anstelle von Kreuzen weltliche Symbole wie Obelisken oder Flaggen auf den Berggipfeln zu errichten. Solche Motive konnten jedoch mit dem Bestreben, Kreuze auf Berggipfeln zu errichten, nicht mithalten.

Das Kreuz, das auch für die Gipfelvermessung genutzt wurde, symbolisierte in dieser Zeit aber mehr die menschliche Leistung als eine Verneigung vor Gott.

Ein «doppeltes Kreuz» auf dem Dumbier (Slowakei). © Shutterstock

Comeback der religiösen Kreuze

Zum eigentlichen Siegeszug setzten die Gipfelkreuze nach den beiden Weltkriegen an. Es war die Wiedergeburt der religiösen Symbolik: Überall in Europa wurden Gipfelkreuze errichtet, um einerseits den Gefallenen der Kriege zu gedenken und andererseits Gott für die Überlebenden zu danken. Eine Ausnahme stellte Frankreich aufgrund der strikten Trennung von Religion und Staat dar – dort existieren fast keine Gipfelkreuze, da religiöse Symbole ungern im öffentlichen Raum geduldet werden. Auch in Slowenien, als ehemaliger Teil des kommunistischen Jugoslawiens, sucht man die Kreuze meistens vergeblich. Doch im restlichen Alpenraum setzte nach den beiden Weltkriegen ein regelrechter Wettbewerb ein – wer erstellt das schönste, grösste und höchste Gipfelkreuz?

Die Konsequenz: Nun wurden nicht mehr nur simple Holzkreuze errichtet, sondern mitunter wahre Kunstwerke in mannigfaltigen Variationen. Seitdem gehört zum Gipfelkreuz auch oft ein Gipfelbuch, in dem sich die BesucherInnen verewigen können. Ortspfarrer und Bischöfe zeigten sich dem gegenüber allerdings skeptisch und übten Kritik: Die Kreuze seien schliesslich zur Ehre Gottes da, nicht zum Dienst am Ego.

Allgemeines Kulturgut?

Die Initiative zur Errichtung von Gipfelkreuzen ging in der Regel von Vereinen aus, etwa dem Alpenverein, Schützenkompanien oder der Bergrettung. Junge Männer schleppten das Material in kräftezehrender Arbeit bei Wind und Wetter auf die abgelegensten Berge, wobei heute auch Helikopter für diesen Einsatz genutzt werden. Während bei uns in den vergangenen Jahrzehnten das Christentum an Bedeutung verloren hat, entwickelten sich die Gipfelkreuze zum allgemeinen Kulturgut. Traditionelle, geschichtsträchtige Symbole, in welche jeder Mensch das hineininterpretieren kann, was für ihn stimmt. Kreuze auf den Höhen werden nach wie vor neu errichtet, aufwändig künstlerisch gestaltet und die Spektakulärsten mitunter auch touristisch vermarktet. Jene, welche durch die Wettereinflüsse zu arg in Mitleidenschaft gezogen werden, werden immer wieder aufs Neue repariert. Allerdings finden längst nicht alle Menschen Gefallen an den Gipfelkreuzen.

Kontroverse Ansichten

Man kann sich durchaus die Frage stellen, was das christliche Symbol par excellence auf den Berggipfeln zu suchen hat. Das machen mitunter auch prominente Köpfe sehr öffentlichkeitswirksam, wie der bekannte Bergsteiger Reinhold Messner – für ihn ist es schlicht «Humbug». Durch die Kreuze würden die Gipfel für religiöse Zwecke missbraucht und die Schönheit der Berge werde verschandelt. Messner vertritt die Ansicht, dass die Berge der ganzen Welt gehörten– und nicht nur einer Glaubensgemeinschaft. Zudem seien die Berge den Christen, ganz im Gegensatz zu anderen Religionen, per se gar nicht heilig. Messner fordert jedoch nicht, dass die Gipfel der Alpen von den Kreuzen «befreit» werden: «Natürlich sollten bestehende Gipfelkreuze schon aus historischen Gründen stehen bleiben. Und ich würde niemals jemanden verteidigen, der Kreuze umhackt, das ist ja fast ein terroristischer Akt», sagte Messner gegenüber der «Süddeutschen Zeitung».

Anschläge auf Gipfelkreuze

Andere sehen dies weniger pragmatisch und sind in ihren Ansichten radikaler. So forderte die Freidenker-Vereinigung der Schweiz 2010 die komplette Abschaffung von Gipfelkreuzen und insbesondere, dass keine neuen in der Schweiz errichtet werden. Ihr Argument: Da Berge öffentlicher Raum seien, sollte dieser auch frei von religiösen Symbolen sein. Andere suchen gar nicht erst eine öffentliche Debatte, sondern legen gleich selbst Hand an: Fragwürdige Bekanntheit erlangte beispielsweise ein Schweizer Bergführer, als er im Kanton Freiburg zwei Gipfelkreuze beschädigte und vor Gericht aussagte, er wolle «die Präsenz des christlichen Glaubens in der Öffentlichkeit bekämpfen.» Er wurde zu einer Geldbusse wegen Sachbeschädigung und Verletzung der Religionsfreiheit verurteilt. In der Tat sind Anschläge auf Gipfelkreuze keine Seltenheit und kommen alle paar Jahre vor. Dabei gehen die Täter äusserst rabiat vor und schleppen für ihr Unterfangen Äxte und Sägen mit auf die Gipfel. Kaum einer wird je gefasst.

Halbmond auf dem Gipfel

Dass man eine Debatte über Gipfelkreuze auch kreativ anregen kann, veranschaulicht eine Anekdote aus dem Appenzellerland: 2016 installierte der Künstler Christian Meier auf einem Gipfel des Alpsteinmassivs einen Halbmond – als Kontrast zu den üblichen Gipfelkreuzen.

Meier hatte sich für seine Aktion nicht einen x-beliebigen Gipfel des Massivs ausgesucht: Es ist jener der Freiheit. Als glühender Atheist empfinde er die vielen Gipfelkreuze als absurd. «Da kam mir die Idee, einen ebenso absurden Kontrast zu setzen.» Die Reaktionen samt gehässigen Kommentaren auf Social Media über das offiziell nicht genehmigte Kunstwerk liessen nicht lange auf sich warten. Bei der Mehrheit der Bergwanderer stiess die Mondsichel, arabisch Hilal, auf komplettes Unverständis. Von einer «Sauerei» war da die Rede oder einer «bodenlosen Frechheit».

Diese Auffassung teilte die Mehrheit der Teilnehmenden einer Umfrage des Magazins «Watson» freilich nicht: Dort befanden 57 Prozent die Aktion als «interessant und anregend». Eine hitzige Kontroverse fand statt, Meiers Installation erfüllte ihren Zweck: Eine Debatte über Sinn und Unsinn religiöser Symbole am Berg. Nach einer kurzen Intervention der Kantonspolizei Innerrhoden erklärte sich Meier bereit, die Installation zu entfernen. Seither ist der Gipfel der Freiheit sowohl Halbmond- wie auch Kreuz-frei.