Nebel liegt in der Ursener Luft – gemacht hat diesen aber nicht das Wetter, sondern der Heizkessel. Der kohl(en)rabenschwarze Koloss steht am Bahnhof Realp bereit und glänzt in der Sonne wie die Stirn jener freiwilligen Helfer, welche die über 100-jährige Lok in frühen Stunden mit Schaufel, Kohle und Wasser fahrbereit gemacht haben. Eine Schwade, ein Pfiff – und der Antriebsarm der Dampflok hebt sich, senkt sich, schiebt, zieht und schlägt zurück. Immer schneller. Mit dem Takt von «Tschuff-klack, Tschuff-klack» beginnt die Tour über die ehemalige Glacier-Bergstrecke, bei welcher die Berge im Sommertenü scheinbar Spalier stehen.

Hier pocht der Pioniergeist

«Mami, Papi, da habt ihr aber eine schöne Strecke ausgesucht», sagt der Kiekindiewelt, dessen Nasenspitze beinahe die Fensterscheibe küsst. Der Kleine hatte befürchtet, die Zugfahrt würde «langweilig, wie immer» sein. Weit gefehlt: Vor den Scheiben bietet sich ein Spektakel, über 18 Kilometer durch wilde Schluchten, so nahe an Felsen, dass man meint, die prächtig blühenden Alpenrosen durch das geöffnete Fenster pflücken zu können. Manche Loks hatten schon in ganz anderen Gefilden gefaucht: Im südvietnamesischen Hochland rosteten sie nach dem Kriegsende jahrelang vor sich hin, bis eine Delegation der DFB diese hinsichtlich der geplanten Wiederherstellung der Furka-Bergstrecke in einer spektakulären Aktion zurück in die Schweiz holte und sie aufwändig restaurierte in den Werkstätten in Uzwil, Aarau und Goldau.

Bis zu 50’000 Arbeitsstunden stecken vom Bremsklotz bis zum Schlot in den rollenden Monumenten. Wie ein stählerner Phönix aus der Asche der Zeit ist jüngst die revidierte Dampflok «HG 4/4 Nr. 708» auferstanden: Europas stärkste Schmalspur-Dampf Zahnradlok mit Baujahr 1923 befährt seit dieser Saison die alpine Bühne zwischen Realp und Oberwald. Ihre Schwesterlok Nr. 704 dampft bereits seit sechs Jahren auf der Furka-Bergstrecke.

Ehrenamtlich einheizen: 800 Freiwillige bewerkstelligen den Betrieb.

Gedankenverloren über glühende Gleise

Der Kontrast zu modernen Zügen ist gerade auf den kühnen Schienen-Serpentinen Richtung Station Furka deutlich: Inmitten dieser dampfenden Rebellion gegen Hyper-Hightech beginnt man zu verstehen, wie entschleunigend Russromantik ist – der Zug zuckelt mit einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Genau richtig in der Zeit, genau richtig im Tempo. Die Hast hat man am Bahnhof stehen lassen wie einen alten Koffer, dem man sich eh entledigen wollte.

Sitzt man so da auf der polierten Holzbank, überwindet man Schwellen des eigenen Bewusstseins, kann sich doch das Denken entfalten wie eine sorgfältig gefalzte Landkarte. Zwischen Tal und Tunnel lassen sich Gedanken belauschen, die sonst unter der Oberfläche brodeln wie das Wasser im Kessel der Lok. Plumpe wie «Ich dampfe, du dampfst, wir dampfen», poetische wie «Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen» wie es Johann Wolfgang Goethe formulierte, der sich 1779 in und um Realp aufhielt. Und dann dieser Gedanke: So einmalig das Erlebnis, so eindrücklich die Tatsache, dass sich der junge Lokführer, die zupackenden Männer, die auf der Furka die Lok drehen, der quirlige Zugführeranwärter, der mit einer antiken Laterne in der Hand Anekdoten von anno dazumal erzählt, freiwillig und unentgeltlich engagieren.

Faszination auf der Furka: der höchste Streckenpunkt liegt auf 2160 m ü. M.

Von Dampf und Dichtern

Zweieinhalb Stunden tingelt man durch die alpine Topografie, zwischen urtümlicher Natur und uralter Ingenieurskunst, über das Steinstafel-Viadukt, das sich über die Schlucht spannt, den fast zwei Kilometer langen Scheiteltunnel nach der Furka-Passhöhe, vorbei an kühlen, kühnen Kaskaden.

Nach der Ankunft in Gletsch, das unterhalb des geschwundenen Rhonegletscher liegt und 1850 dank zwei Hoteleröffnungen zur Tourismus-Pioniergemeinde avancierte, ist man vor lauter Nostalgie und Natur so übermütig, dass man Goethe als «töricht» bezeichnet, ohne mit der Wimper zu zucken: Er schrieb über seine Durchreise in Gletsch 1779 von der «ödesten Gegend der Welt, und in einer einförmigen Gebirgswüste». Wäre die Dampfbahn Furka damals schon verkehrt, hätte ihn bestimmt die Muse geküsst – oder ihm Dampf gemacht.

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