14 Turmwächter (Guets, Türmer) rufen nachts die Stunden vom Turm der Kathedrale in Lausanne – ununterbrochen seit 1405. Nun amtet erstmals eine Frau als «Guette».

Drei bis fünf Mal monatlich befindet sich der Arbeitsort von Cassandre Berdoz im Turm der Kathedrale von Lausanne. Genauer in einer kleinen Kammer, 30 Meter oder rund 160 Treppenstufen über dem Erdboden. Der Raum ist ausgestattet mit einem Bett und einem Tisch. Zum Glück auch mit einer Heizung. Aber ohne Wasser oder Toilette.
Die 27-jährige Lausannerin empfindet es als grosse Ehre, von 10 Uhr abends bis 2 Uhr morgens die Stunden ausrufen zu dürfen, denn schon seit ihrer Kindheit war dies ihr Traum. Das Ansehen von Türmern war nicht immer hoch. Im Mittelalter galt der Beruf als «ehrlos». In den städtischen Ständegesellschaften des Mittelalters wurden Kinder aus Türmerfamilien daher meist von der Aufnahme in andere Zünfte ausgeschlossen und durften keine anderen Berufe erlernen.

©Ville de Lausanne – Noura Gauper

WOZU TÜRMER?
Wozu braucht es heute eine Turmwächterin? Türmer sind keine Glöckner, welche die Glocken ziehen oder schlagen. Ob der Begriff «Türmer» vom Verb «ausreissen, fliehen» kommt oder davon, dass Türmer auf dem Turm die Stunden ausrufen? Turmwächter waren früher vernetzt mit anderen, meist mit Hellebarden bewaffneten Wachleuten am Fuss der Kathedrale und in der Stadt. Sie waren traditionell Feuerwächter, die beim kleinsten Feuerflackern oder den ersten Rauchschwaden Alarm schlugen. Damals waren viele Gebäude der Stadt aus Holz. Sie entflammten bei einer Feuersbrunst rasant und das Feuer griff schnell um sich. Die Bewohner mussten insbesondere in der Nacht schnell gewarnt werden, um rechtzeitig vor dem Feuer fliehen, türmen zu können. Türmer warnten auch vor heranrückenden Feinden.
Macht es Sinn, heute, zu Zeiten von Zentralheizungen, Brandmeldern und professioneller Feuerwehr, auf dem Turm zu wachen und die Zeit vom Turm zu rufen? Cassandre Berdoz lächelt. «Nötig ist es nicht. Aber wir Lausanner lieben diese Tradition. Es geht nicht um eine Funktion, sondern um Emotionen.»

(c) Ville de Lausanne

DIE GLOCKE CLÉMENCE
Die Kathedrale Notre-Dame ist die reformierte Hauptkirche der Stadt und des Kantons Lausanne. Sie gilt als bedeutendes Bauwerk der Gotik in der Schweiz. Das Baumaterial ist Molasse, ein weicher Sandstein. Wegen seiner geringen Widerstandskraft werden praktisch permanent Restaurierungsarbeiten durchgeführt. Ein Besuch der Kathedrale lohnt sich. Bedeutend ist die Fensterrose aus dem frühen 13. Jahrhundert im Querhaus. Sie wurde vom sogenannten Meister der Rose von Lausanne geschaffen und gibt ein Bild des damaligen Verständnisses der Welt: Erde und Meer, Luft und Feuer, Jahreszeiten, Monate und Sternzeichen sowie Ungeheuer, die am Rande der Welt lauern. Bemerkenswert ist auch die Orgel. Im Turm der Kathedrale hängen sieben Glocken, darunter 5 historische Glocken. Im Rahmen von Corona bekam die Glocke Clémence aus dem Jahr 1518 Bedeutung. Titulartürmer Renato Häusler läutete ein Jahr nach dem ersten registrierten Tod durch COVID-19 am 5. März 2021 in der Kathedrale Notre Dame in Lausanne, um den Opfern zu gedenken.

CHARMANTE FORM DER EMANZIPATION
Bereits bei ihrer Maturafeier in der Kathedrale übernahm Cassandre Berdoz mit ihrer geschulten Stimme ein Gesangssolo. Sie liebte seit jeher die Orte um die Kathedrale, wo man über die Stadt und den Lac Leman schauen kann. Ausschlaggebend für ihren drängenden Wunsch, Guette zu werden, war der Frauenstreik 2019. Damals riefen vier Frauen die Stunden vom Turm – ein symbolischer Akt. Die junge Lausannerin nahm mit Renato Häusler Kontakt auf. Er hatte selbst 1987 als Hilfs-Guet begonnen und ist seit 2002 als Guet titulaire, leitender Guet tätig. Er hat fünf Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin. Häusler unterstützte das Anliegen, dass auch eine Frau dieses traditionelle Männeramt ausüben dürfe.
Steter Tropfen höhlt den Mann: Etwa alle drei Monate rief Cassandre Berdoz das zuständig Amt an und erkundigte sich, ob ein Posten als Guette frei würde. Schliesslich wurde eine Stelle ausgeschrieben – explizit eine Frau wurde gesucht. Sie bewarb sich neben rund hundert anderen Bewerberinnen und bekam als 27-Jährige die Stelle. Sie erfüllt die traditionelle Aufgabe des Ausrufens der Stunden offiziell seit August 2021, macht Führungen und gibt Journalisten aus aller Welt Interviews. Denn eine weibliche Türmerin ist noch immer eine Mediensensation.

(c) Regula Zellweger

TRADITIONEN WEITERGEBEN
Zum Glück wohnt Cassandre Berdoz in der nahen Umgebung der Kathedrale und legt den Hin- und Rückweg zu Fuss zurück. Sie mag die stillen, einsamen Nachtstunden, weit über den Dächern von Lausanne. «Ich fühle mich wie aus der Zeit gefallen», versucht sie zu erklären. Sie legt ihre Hand liebevoll auf einen dicken Balken. «Er ist aus dem 13. Jahrhundert – verstehen Sie, was ich meine?» Gern macht sie Führungen, insbesondere mit Kindern. Auf halber Höhe befindet sich ein Raum mit besonders guter Akustik. «Hier klingt jeder aufregend gut – auch wer gar nicht singen kann», lacht sie. Auch die Stunden mitrufen dürfen Besucher manchmal. Es ist ein starkes Gefühl, die Stimme laut über die Stadt zu erheben. Und wieder ist sie bei einem ihrer Lieblingsthemen: Frauenrechte, Emanzipation. Ihre Mutter, eine Kunsthistorikerin, hat ihr das Selbstbewusstsein als Frau mitgegeben. «Mit meiner Arbeit als Guette will ich Frauen auf meine Art dazu ermutigen, selbstbewusst in Männerdomänen vorzudringen. Nicht gegen die Männer, mit den Männern.» Heute sind Nachtwächter, zu denen die Türmer gezählt werden, in 63 europäischen Städten in neun Ländern aktiv, Cassandre Berdoz ist mit grosser Wahrscheinlichkeit die erste festangestellte Guette.

NEBENJOB MIT HERZBLUT
Cassandre Berdoz studierte Kommunikation in Neuenburg und schloss mit einem Bachelor in Letters and Humanities ab. Sie arbeitet heute in einer Kommunikationsagentur. Eines ihrer Projekte ist «Die Nacht der Museen». Wie alle Lausanner Guets macht sich die Guette kurz vor zehn bereit, zieht den schwarzen Schlapphut über und zündet eine Kerze in einer Laterne an. Die Schläge der 6.6 Tonnen schweren Glocke sind ohrenbetäubend. Kaum sind die Glockenschläge verklungen, formt sie ihre Hände zu einem Trichter und ruft: «C’est la guette, il a sonné dix!» Gemessenen Schrittes geht sie weiter, bis ihre Rufe in alle vier Himmelsrichtungen erklungen sind. Voller Stolz und Dankbarkeit, als erste Frau Türmerin von Lausanne zu sein.
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