Im Land der Raritäten
Alte Sorten, neuer Einsatz: Auf einer kulinarischen Rundreise durch den Vinschgau zeigen sich norditalienische Spezialitäten von ihrer traditionellen, aber auch innovativen Seite.
Alte Sorten, neuer Einsatz: Auf einer kulinarischen Rundreise durch den Vinschgau zeigen sich norditalienische Spezialitäten von ihrer traditionellen, aber auch innovativen Seite.
Das spezielle Trockenklima mit viel Sonne, die milden Temperaturen, die üppig grüne Vegetation des Nördersbergs im Kontrast zu den kargen Hängen des Sonnenbergs: Die Landschaften im Westen Südtirols machen den Vinschgau zu einer beliebten Ferien- und Kulturregion. Hier sind Wandernde auf dem Höhenweg unterwegs, da erkunden RadfahrerInnen die Etschradroute entlang der antiken römischen Handelsstrasse Via Claudia Augusta, dort erkunden Kulturfreunde karolingische und romanische Kleinode. Sei es aber in der langgestreckten Talsohle oder aber in der Welt der Bergbauernhöfe in den abgeschiedenen Seitentälern, bei Ausflügen im Vinschgau lohnt es sich, innezuhalten und bei einer Rast die lokalen Produkte kennenzulernen. Schliesslich gilt die Region Vinschgau mittlerweile als Feinkostabteilung Südtirols – die hochwertigen Erzeugnisse der Gegend haben aus der einstigen Arme-Leute-Küche ein Gourmet-Paradies gemacht, in dem SchlemmerInnen von der traditionellen Südtiroler Vorspeise über deftige Hauptgänge bis zu süssen Köstlichkeiten alles vorfinden.
Für einen ersten kulinarischen Stopp geht es nach Laatsch. Im Vinschgauer Bergdorf auf knapp 1000 m ü. M. gibt es mit der St. Leonhardskirche, dem Volkskundemuseum und dem nahen Höhenweg bereits einiges zu sehen und zu unternehmen. Hungrige BesucherInnen sollten sich danach aber zur Bäckerei Schuster begeben: In vierter Generation stellt der Familienbetrieb nämlich unter anderem das Vinschger Ur-Paarl her.
Das traditionelle, flache Brot aus dunklem Roggenmehl aus der Region besteht aus zwei verbundenen, runden Laiben, die buchstäblich ein Paar bilden und dem Produkt den Namen verliehen haben. Das uralte Rezept stammt dabei aus dem nahegelegenen Kloster Marienberg, wo das Paarl nachweislich bereits im 13. Jahrhundert gebacken wurde – in den mittelalterlichen Backstuben der Alpentäler waren für die harten Wintermonate lange haltbare Lebensmittel notwendig. Dafür eignete sich das Sauerteigbrot ideal, das zudem dank Zugabe von Kümmel, Brotklee und Fenchel bekömmlicher gemacht wurde. Heute verfügt das Brot aus der Bäckerei Schuster über das Label «Presidio-Slow Food»; italienweit haben nur neun Brotsorten diese Auszeichnung erhalten – ein Grund mehr, sich für diese Spezialität viel Zeit zu nehmen.
Es bleibt historisch: Der nächste Halt auf der kulinarischen Rundreise durch das Vinschgau erfolgt im kleinen Städtchen Glurns. Es kam im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit dank regem Handel zu Wohlstand und gilt noch heute mit seiner Ringmauer mit den drei Stadttürmen als architektonisches Juwel. Wer hier schlendert, trifft auf Schritt und Tritt auf malerische Gassen, niedrige Laubengänge und Gärten mit Birnenbäumen und Blumen. Zum Ortsbild gehört auch der Flurinsturm, der einst als Gerichts- und Verwaltungssitz sowie als Herberge für den Adel fungierte – sogar Kaiser Maximilian zählte damals zu den illustren Gästen. Der vor über 800 Jahren erbaute Turm gehört zu den ältesten noch erhaltenen Strukturen von Glurns und ist immer noch eine spannende Adresse für BesucherInnen: Die Familien Ortler hat das Haus nämlich komplett saniert und darin das Restaurant Flurin eingerichtet.
Auf der Speisekarte stehen unter dem Motto «Casual Fine Dining» monatlich wechselnde Menüs aus hochwertigen, saisonalen Produkten der Region. Hier zeigt sich der junge Spitzenkoch Thomas Ortler von seiner innovativen Seite: Glurnser Pak Choy trifft bei ihm auch mal auf Bio-Ziegenkäse, und auf die Pseirer Lachsforelle darf ein Südtiroler Blauschimmel- Käse folgen. Für seine Leistungen hat ihn Gault-Millau letztes Jahr zum «Best Young Chef 2023» gekürt, und auch der Guide Michelin lobt ihn für seine «kreativen und fantasievollen Rezepte». Lokale Weine runden das Angebot im Flurinsturm ab, und wer möchte, kann vor Ort auch gleich übernachten: Verschiedene Suiten und Zimmer mit originalen Mauern aus dem 13. Jahrhundert und der Blick zum Glurnser Stadtplatz gehören hier zur Ausstattung.
Die Obstbäume rund um Glurns haben es bereits verraten: Die Birne hat im Vinschgau Tradition – und ihre Königin ist die Palabirne. Diese Sorte präsentiert sich süss, saftig und frisch zugleich und wird wegen ihren gesundheitsfördernden Eigenschaften auch «Sommer-Apothekerbirne» genannt. Zwar ist das Südtirol vorwiegend ein Apfelland, doch BesucherInnen können etwa zwischen dem siebentürmigen Mals im Obervinschgau und dem Feinschmeckerdorf Kastelbell am südlichen Ende auch immer wieder einzelne bis zu 25 Meter hohe, knorrige Palabirnenbäume entdecken. In Glurns wird die Rarität im September gar mit den Vinschger Palabira-Tagen gefeiert. Am Event bieten Bauern ihre Früchte direkt an, doch sie kommen auch in diversen Gerichten zum Einsatz. Als alte Spezialität der Region gilt dabei vor allem das «Palabirnbrot», bei dem getrocknete Schnitze in den Teig gemischt werden.
Noch nicht genug vom guten Obst? Auch die Vinschger Marille findet in der Region ein ideales Terrain, um grosse, süsse, weiche und saftige Früchte zu bilden. Diese Aprikosensorte gedeiht auf Höhenlagen bis zu 100 m ü. M. und wird entweder sofort verzehrt oder zu Marmeladen verarbeitet. Auch diesem leckeren Kulturgut wird übrigens ein eigenes Fest gewidmet: Alljährlich im August findet in Laas «Marmor und Marillen» statt; der Anlass kombiniert an 40 Ständen Kulinarik mit lokaler Steinmetzkunst.
Von den Obsthainen des Talbodens führt die Gastro-Tour nun wieder in die Höhe, genauer gesagt zur Sennerei Burgeis auf 1216 m ü. M. Hier wird ein weiteres Slow-Food-Produkt hergestellt; der Stilfser Käse, der als einziger Südtiroler Käse mit der europäischen Ursprungsbezeichnung g.U. geschützt ist. Nach überlieferter Rezeptur verarbeiten die Käser die frische Kuhmilch der umliegenden Südtiroler Bergbauernhöfe zu gelben Laiben, die über eine weiche, elegante Konsistenz verfügen. Bei der Verkostung zeigt sich dann ein Aroma, das nussige, buttrige Noten und Anklänge von Heu enthält.
Burgeis ist übrigens nicht nur wegen des Stilfsers einen Besuch wert: Die Ortschaft liegt schliesslich zu Füssen des Erlebnisbergs Watles und verfügt mit der Fürstenburg, dem Kloster Marienberg und dem malerischen Dorfzentrum mit seinen Fresken über sehenswerte Bauten. FeinschmeckerInnen kommen zudem im «Mamesa» auf ihre Kosten. Im Fine-Dining-Restaurant von Chefkoch Marc Bernhart wird fermentiertes Vinschger Urgetreide ebenso serviert wie französische Austern und Wagyu-Rind. Dafür wurde es von Gault-Millau mit drei roten Hauben ausgezeichnet.
Für den Endspurt der Rundreise geht es nochmals hinunter nach Glurns, zu den Tallagen der einstigen Kornkammer Tirols. Und Korn steht hier nach wie vor im Fokus: Seit 2010 steht in der historischen Kleinstadt nämlich die Whisky-Destillerie Puni, die erste ihrer Art in Italien. Gebrannt wird vor Ort in einem 13 Meter hohen Ziegel-Kubus des renommierten Südtiroler Architekten Werner Tscholl, wobei die Herstellerauf weiches Vinschger Gletscherwasser aus dem Nationalpark Stilfserjoch und zum Teil auf Getreide von umliegenden Bauernhöfen setzen. Anschliessend wird der Whisky in unterirdischen Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg gelagert. Dabei kommen sowohl Weinfässer aus dem Südtirol als auch amerikanische Bourbon-Fässer und Marsala-Fässer aus Sizilien zum Einsatz. Die warmen, trockenen Sommer und die kalten, feuchten Winter der Region sorgen für eine schnelle Reifung des vielschichtigen «Italian Malt Whiskys».
Und wie schmeckt das? Im Rahmen einer Destillerie-Führung erfahren BesucherInnen mehr über den Produktionsprozess und können im Keller die Whiskys verkosten – ein ebenso hochprozentiger wie vollmundiger Abschluss der kulinarischen Tour durchs Vinschgau.