Jürg Schweizer ist einer der bedeutendsten Lawinenforscher und Leiter des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos.

Herr Schweizer, Sie arbeiten seit über drei Jahrzenten mit Schnee und Eis – woher kommt diese Faszination?

Ursprünglich studierte ich Umweltphysik und habe meine Diplomarbeit an der ETH Zürich in Glaziologie abgeschlossen. Vermutlich wäre ich auch diesem Bereich geblieben, denn es entsprach meiner Passion fürs Bergsteigen, Klettern und für den Alpinismus generell. Zufällig entdeckte ich eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SLF, habe mich dort beworben – und bin seit 1990 fast ohne Unterbruch da tätig. Auch das passte natürlich zu meiner Leidenschaft für die Berge.

Was ist der Kernauftrag des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF)?

Der Bund erteilte uns den Auftrag, die Bevölkerung über die Schnee- und Lawinensituation in der Schweiz zu informieren. Der Schutz vor Lawinen, also quasi das Lawinen-Risikomanagement, ist unsere Kernaufgabe. Hierzu gehört es, den Lawinendienst der Schweiz sicherzustellen, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen zu erbringen, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. All das ist nur möglich auf der Basis guter Forschung beispielsweise im Kältelabor.

Worauf zielt Ihre Forschung genau ab?

Das Ziel ist es, besser und genauer vorherzusagen, wo und wann eine Lawine niedergehen wird. Dafür stehen diverse Mittel und Modelle zur Verfügung, um Menschen und die Infrastruktur vor Lawinen zu schützen. Immer wichtiger werden auch andere Naturgefahren sowie die Frage, wie sich dich Klimaerwärmung auf Schnee, Eis und Permafrost auswirkt.

Welche Modelle setzen Sie dabei ein?

Eines der zentralen Modelle ist ein numerisches Schneedeckenmodell, genannt «SNOWPACK». Damit simulieren wir die Prozesse, die in der Schneedecke ablaufen, und die Wechselwirkung zwischen Schneedecke und Atmosphäre. Wichtige Grundlagen für das Modell stammen aus Laborexperimenten. Im Labor erforschen wir primär die Eigenschaften des Schnees. Schnee ist ein äusserst komplexes Element und es verändert sich ständig – dies ist eine der grossen Herausforderungen in der Schneeforschung. Die am besten reproduzierbaren Verhältnisse bietet hierfür das Labor.

SLF-Mitarbeitende
SLF-Mitarbeitende beim Aufnehmen eines Schneeprofils. © Mallaun Photography
Können Sie uns dieses Modell etwas genauer erklären?

Mit dem Modell können wir die Entwicklung der Schneedecke im Laufe des Winters basierend auf Wetterdaten simulieren. Mit SNOWPACK erhalten wir die Schichtung der Schneedecke. Es zeigt, welche Schichten es gibt und wie deren Eigenschaften sind. Das ist wichtig für die Lawinenwarnung, denn anhand des Aufbaus der Schneedecke lässt sich die Schneedecken-Stabilität ableiten. Seit kurzem haben wir dafür drei Modelle entwickelt auf der Basis der Methode des maschinellen Lernens. Diese sollen die Prognostiker bei der Lawinenwarnung unterstützen. Ein wichtiger Input der Modelle ist der Output von SNOWPACK. Dies ist nur eine der Ketten von der Forschung im Labor zur Praxisanwendung.

Und wie können Sie den voraussichtlichen Weg und die Wucht von Lawinen eruieren?

Hierfür gibt es das Rapid Mass Movement Simulation Programm, kurz RAMMS genannt. Da bilden nicht wie bei SNOWPACK Laborexperimente die Grundlage, sondern grosse Feldversuche in unserem Testgelände Vallée de la Sionne in der Nähe von Sion. Hier können wir grosse Lawinen künstlich auslösen und deren Dynamik messen, wir schauen ins Innere der Lawine. Die Daten fliessen dann in die Weiterentwicklung des lawinendynamischen Modells RAMMS, mit dem sich Geschwindigkeit, Reichweite und der Druck berechnen lassen. Auf dieser Grundlage können Schutzmassnahmen für Infrastruktur geplant und Gefahrenzonen ausgeschieden werden.

Trotz all dieser Modelle und entsprechender Computerunterstützung gestaltet sich die Lawinenprognose als schwierig. Weshalb?

Wir müssen im gesamten Alpenraum, sozusagen alle paar Meter, wissen, wie die Schneedecke aufgebaut ist, um die Stabilität abschätzen zu können. Letztlich ist die Bildung einer Lawine von Zufälligkeiten abhängig. Schliesslich handelt es sich um Bruchprozesse in der Schneedecke, die von teilweise zufälligen Variationen in der Schneestruktur herrühren. Es gibt also etliche Komponenten, die nicht vorhersehbar sind. Ob und wie Lawinen entstehen, hängt generell vom Aufbau der Schneedecke ab, deren Schichtung und Mächtigkeit wiederum ist der Wechselwirkung zwischen Wetter und Gelände geschuldet. Das ist zu einem gewissen Grad chaotisch und es ist nicht möglich, alle Eventualitäten bis ins letzte Detail zu prognostizieren – die Natur ist schlicht zu komplex. Wenn ich sehe, welche enormen Fortschritte die numerischen Modelle bei der Wetterprognose gebracht haben, und wir in den nächsten zehn Jahren vergleichbare Fortschritte machen, dann kommen wir einer verlässlichen Prognose deutlich näher und ich wäre mehr als zufrieden.

Forscher imKältelabor des SLF
Forscher im Kältelabor des SLF bei der Präparation einer Schneeprobe. © Ralph Feiner
Sie haben mit Ihrer Forschung die sogenannte bruchmechanische Sichtweise auf die Lawinenbildung geprägt. Können Sie uns dies ein wenig erläutern?

Die Lawine ist letztlich ein Bruchprozess. Das heisst, einzelne Bindungen zwischen den Eiskristallen in der Schneedecke brechen. Ist der geschädigte Bereich gross genug, breitet sich der Bruch rasant entlang der Schwachschicht aus – bis eine ganze Schneeschicht als Schneebrettlawine abgleitet. Die Bruchmechanik entstand in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und befasst sich mit der Ausbreitung von Rissen unter statischen und dynamischen Belastungen. Es gilt die Bedingungen zu verstehen und so zu verhindern, dass grosse Strukturen auseinanderbrechen – beispielsweise Flugzeuge oder Schiffe. Kein Material ist nämlich ganz homogen, und es gibt stets Variationen der Festigkeit in einem Material.

Mit welcher Konsequenz?

Sobald ein Material variabel ist, hat es schwache Stellen, an denen bei Belastung Spannungskonzentrationen und letztlich kleine Brüche entstehen. Wachsen die zusammen und werden grösser, werden in diesem Bereich die Spannungen so gross, dass die Festigkeit überschritten wird, man spricht von der Bruchzähigkeit, und der Bruch beginnt sich plötzlich rasch auszubreiten – mit der Folge, dass das gesamte System kollabiert. Ein einziger kleiner schwacher Punkt kann also eine gesamte, in sich starke Struktur zerstören. Insbesondere bei spröden und porösen Materialien, wozu der Schnee typischerweise gehört.

Das SLF sichert den Lawinenwarndienst in der Schweiz und warnt die Öffentlichkeit vor Lawinengefahren. Wie schnell können Sie auf sich abzeichnende Risiken reagieren?

Innert Stunden – tagsüber. Grosse Lawinengefahren gehen mit grossen Schneemengen einher, und diese werden von der Meteorologie ja relativ gut prognostiziert. Wir veröffentlichen abends um 17 Uhr ein Bulletin und überprüfen am nächsten Morgen, ob dies noch zutreffend ist. Je nachdem veröffentlichen wir ein Update auf eine höhere Lawinengefahrenstufe. Es ist auch schon vorgekommen, dass sich die Situation zwei Stunden später im Verlaufe des Morgens anders als erwartet präsentierte, also reagierten wir, und haben die Gefahr heraufgestuft.

Sie haben die Gefahrenstufen erwähnt. Die Lawinengefahr wird von Wetter- und Schneeverhältnissen in die Stufen von 1 bis 5 eingeschätzt. Aufgrund welcher Berechnungen?

Bei Niederschlags- oder Sturmwarnungen gibt es exakte Schwellenwerte. Dies ist bei den Lawinen nicht der Fall, weil die Lawinengefahr nicht messbar ist. Es gibt grobe Definitionen der Gefahrenstufen. Die Erfahrung ist aber wichtig. Man hat ein gewisses Bild im Kopf, welche Situation welcher Gefahrenstufe entspricht. Basierend auf den aktuellen Daten analysiert man die Situation, bekommt ein Bild, gleicht es mit der Erfahrung ab und bewertet so die Gefahr. Es gibt noch keinen zuverlässigen Algorithmus zur Berechnung der Gefahrenstufe – aber ein erstes Modell sind wir am Testen.

Die meisten Lawinenunglücke geschehen bei «erheblicher Gefahr». Sollte man die Gefahrenskala anpassen, da diese Gefahrenstufe offenbar nicht abschreckt?

Unser Auftrag ist umfassend, nämlich Bevölkerung und Infrastruktur zu schützen. Dementsprechend können wir bei Gefahrenstufe 3 nicht schon das ganze Pulver verschiessen, es braucht eine gewisse Steigerung für Grossschneefallsituationen, wenn Strassen und Dorfteile bedroht sind. Zudem ist vieles bei der Gefahrenstufe 3 ja auch noch möglich, und man kann problemlos eine Skitour oder Variantenabfahrt unternehmen – vorausgesetzt man kennt sich aus oder schliesst sich einer Gruppe unter kundiger Führung an. Würden wir die Stufe «extrem» statt «erheblich» nennen, würde dies kurzfristig vielleicht abschrecken, aber bald würde jeder Wintersportler merken, dass die Gefahr nicht «extrem» ist – und die Warnwirkung wäre schnell verpufft. Aber es ist schon so, nebst der Verbesserung der Prognosen müssen wir auch versuchen, möglichst viele Wintersportler zu erreichen. Die Kommunikation der Warnungen ist eine grosse Herausforderung.

…und die Menschen haben ja auch eine gewisse Eigenverantwortung.

Genau – und meist geht es ja gut. Verglichen mit der Anzahl Wintersportler in den Bergen sind Lawinen ein eher seltenes Ereignis. Und die wenigsten Unfälle sind grober Unvorsichtigkeit geschuldet. In vielen Fällen haben die Betroffenen auch schlicht Pech gehabt. Da Lawinen sich nicht genau prognostizieren lassen, sind Skifahren und Snowboarden abseits der Pisten zu einem gewissen Grad eine Risikosportart. Doch meistens ist dieses Risiko relativ gering, und die wenigsten Freerider verhalten sich tatsächlich «bireweich» – wie es zuweilen heisst.

Drohne in den Bergen
Mit Drohnen messen die Forschenden unter anderem die Schneehöhenverteilung im Gelände. © Elisabeth Hafner, SLV
Auch Lawinenwinter sind relativ selten. Einer davon war 1999. Welche Erkenntnisse haben Sie aus der anschliessenden Ereignisanalyse erhalten?

Der Winter 1999 stand unter ähnlichen meteorologischen Bedingungen wie der Lawinenwinter 1951 – wenngleich wesentlich weniger Lawinenopfer zu beklagen waren. Die in der Zwischenzeit ergriffenen baulichen Massnahmen zeigten also Wirkung. Es zeigte sich 1999, dass temporäre Massnahmen wie Sperrungen oder Evakuierungen nach wie vor nötig und wichtig waren. Dies bedingt gut ausgebildete und erfahrene lokale Lawinendienste. Seither wurde die Ausbildung der Fachkräfte verstärkt, sie sind besser organisiert und haben bessere Grundlagen für ihre anspruchsvolle Tätigkeit. Auch 2018, 2019 und 2021 verzeichneten wir einige Tage mit sehr grosser Lawinengefahr, doch passiert ist verhältnismässig wenig. Das ist erfreulich, man merkt, dass an vielen Orten gute Arbeit geleistet und das Risikomanagement immer besser wird.

Die Winter dürften aufgrund des Klimawandels milder werden. Verändert sich dadurch die Lawinengefahr?

Der Blick in die Kristallkugel ist noch etwas trüb. Wir gehen aber davon aus, dass die Auswirkungen des Klimawandels bis Mitte dieses Jahrhunderts keine gravierenden Anpassungen im Risikomanagement bedingen, wie zum Beispiel grössere Änderungen bei den Gefahrenzonen. Es wird zu gewissen Zeiten sicher weniger Lawinen geben, weil es weniger Schnee hat. Die extremen Niederschläge sollten aber ja auch etwas zunehmen. Es wird also wohl durchaus weiter extreme Lawinen geben, aber vielleicht stossen sie nicht so weit ins Tal vor. 2018 könnte repräsentativ für den Klimawandel sein: In diesem Winter hat es zwar viel geschneit, aber zwischendurch immer wieder bis in hohe Lagen geregnet. Aufgrund des vielen Schnees gingen zwar viele Lawinen nieder, diese rückten aber nicht sonderlich weit vor – aufgrund des nassen Schnees in Tallagen. Die variablen Wetterbedingungen mit kälterem und wärmerem Wetter innerhalb von kurzer Zeit sind eine grosse Herausforderung für die Lawinendienste.

Also mehr Ungewissheit?

Vielleicht muss man sich auf mehr Überraschungen einstellen und schon im Frühwinter mit Phänomenen wie Nassschneelawinen rechnen, die normalerweise erst im Frühjahr zu erwarten wären. Ich denke, wir sind betreffend Schutzbauten und Schutzwälder aber gut aufgestellt, um diese Herausforderungen meistern zu können, ohne Anstrengungen wird es aber nicht gehen.

Was ist denn stabiler: viel Schnee und wenige Schichten oder wenig Schnee und viele dünne Schichten?

Wenn es sich um Lawinenauslösungen durch Wintersportler handelt, bedeutet viel Schnee mit wenigen Schichten grundsätzlich eher stabile Verhältnisse. Bei weniger Schnee gibt es typischerweise mehr potenzielle Schwachschichten, die brechen können.

Der als «Lawinenpapst» bekannte Lawinenforscher Werner Munter sagte, die Gesellschaft lebe eine Sicherheitskultur und verlerne dadurch den Umgang mit dem Risiko. Zudem habe die Unfallforschung gezeigt, dass Risikobewusste weniger Unfälle verursachen als Personen, die überzeugt sind, die Sache im Griff zu haben. Ihre Meinung?

Da ist sicher etwas Wahres dran. Die Unfallforschung kann da sicher Hinweise geben. Betrachten wir das Autofahren, dann ist es zwar nicht so einfach. Als Sicherheitsmassnahmen wie Gurten und später Airbags eingeführt wurden, besagte die Unfallforschung, die Lenker würden nun einfach schneller fahren – also die Risikoreduktion kompensieren. Die Realität zeigt jedoch, dass dies wohl kaum der Fall war, jedenfalls hat die Sicherheit im Strassenverkehr enorm zugenommen. Prävention greift schon. Die Persönlichkeit spielt eine grosse Rolle. Wenn jemand eher ängstlich ist, geht er bestimmt weniger Risiken ein als eine Person, die alles im Griff zu haben glaubt. Der eigenverantwortliche Umgang mit dem Risiko ist in unserer Gesellschaft nicht besonders populär. Man will Risikosportarten betreiben – es darf einfach ja nichts passieren. Es sollte uns allen bewusst sein, dass stets ein Restrisiko existiert. Man sollte nicht zuallererst einen Schuldigen suchen.

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