Lawinen: Die weisse Gefahr
Lawinen sind eindrückliche Naturspektakel von immenser Urgewalt. Faszinierend aus der Ferne – doch wehe, wer dem weissen Tod zu nahe kommt.
Lawinen sind eindrückliche Naturspektakel von immenser Urgewalt. Faszinierend aus der Ferne – doch wehe, wer dem weissen Tod zu nahe kommt.
Es donnert, stäubt und kracht – Lawinen sind ein spektakuläres und faszinierendes Phänomen. Aber gleichzeitig auch extrem gefährlich. Die Lawine ist bis heute die mächtigste und unberechenbarste Naturgewalt der Alpen, und im langjährigen Durchschnitt kommt es jährlich zu rund 100 Lawinenopfern im Alpenraum. Dabei beeinflussen verschiedene Faktoren die Stabilität der Schneedecke – vor allem starke Schneefälle, Regen, Wind, Temperaturschwankungen sowie die Hangneigung. Verändert sich das Gleichgewicht, beginnen die Schneemassen ins Tal zu rutschen. Konkreter: Lawinen gehen ab, wenn sich die Spannungsverhältnisse in der Schneedecke verändern, so dass Verbindungen zwischen den Schneepartikeln aufbrechen. Gewaltige Schnee- und Eismassen stürzen alsdann mit einer Geschwindigkeit von bis zu 300 Kilometern pro Stunde den Gebirgshang hinab und reissen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellt.
Ein Leben in den Schweizer Alpen ist ohne Lawinenschutz schlicht undenkbar. Im dicht besiedelten Alpenraum führte diese Naturgefahr schon früh zu neuen Formen des kollektiven Umgangs mit Risiken. So gehört die Schweiz zu den Pionieren in Sachen Lawinenforschung, -schutz und -prävention. Die erste urkundliche Erwähnung von Lawinen hierzulande datiert von 1302, erste nachweisliche Bauten zum Schutz einzelner Gebäude stammen bereits aus dem Jahr 1600. Damals liessen die Bewohner in Leukerbad eine rund 80 Meter lange Lawinenleitwand errichten. Im 19. Jahrhundert wurden dann erste Verbauungen im Lawinenanbruchgebiet erstellt – also dort, wo eine Lawine beginnt –, und Ende des Jahrhunderts begann die Erforschung derselben. Die erste Institution zur systematischen Erforschung der Lawinen in der Schweiz wurde 1931 gegründet, und bahnbrechende Erkenntnisse über die Entstehung, Verbreitung wie auch über Lawinenschutzmassnahmen konnten gewonnen werden.
Trotz aller Schutzmassnahmen gab es immer wieder extreme Lawinenwinter, die etliche Tote forderten. Eines der gravierendsten Lawinenereignisse in der Schweiz datiert aus dem Jahr 1951, als binnen kurzer Perioden enorme Neuschneemengen fielen und es zu unzähligen katastrophalen Lawinenabgängen kam. Damals wurden 98 Menschen Opfer dieser Naturgewalten. Spätestens seit dann sind in der Schweizer Raumplanung Gefahrenzonenpläne Pflicht.
Durch eine ganze Reihe von Massnahmen, insbesondere technische Verbauungen, Aufforstungen, Zonenpläne und Warnsysteme, wurde versucht, das Risiko zu minimieren. Doch der «weisse Tod» kann nie vollends aufgehalten werden – dies wurde erneut im Winter 1998/99 deutlich; innert 30 Tagen fielen am Alpennordhang verbreitet mehr als fünf Meter Schnee, was zu einer äusserst intensiven Lawinenaktivität führte. In jenem Winter gingen in den Schweizer Alpen insgesamt rund 1400 Schadenlawinen nieder, welche Dutzende Opfer forderten.
Um Lehren aus dem Lawinenwinter zu ziehen, leitete das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt nach dem Ereignis eine umfassende Untersuchung ein und präsentierte die Ereignisanalyse «Der Lawinenwinter 1999».
In der Folge wurde die Lawinenwarnung verbessert, Schutzbauten angepasst, künstliche Lawinenauslösung gefördert und neue Modellierungs-Softwares eingeführt. Mit Erfolg: Der Winter 2017/18 mit lokal bis zu drei Metern Neuschnee zeigte auf, dass die Massnahmen grösstenteils greifen. Dennoch: Eine absolute Sicherheit gibt es nach wie vor nicht. Auch heute kann weder der genaue Ort, noch der genaue Zeitpunkt eines einzelnen Lawinenabgangs prognostiziert werden. Denn im Innern einer Lawine laufen komplexe physikalische Prozesse ab – diese muss man verstehen, um die Reichweite und die Zerstörungskraft von Lawinen richtig abschätzen zu können.
«Wir brauchen also einen Blick ins Innere von Lawinen», so Jürg Schweizer, Leiter SLF. «Seit 1997 betreiben wir im Vallée de la Sionne (VS) ein weltweit einzigartiges Versuchsgelände für Lawinen, das mit technischen Geräten diesen Blick in die Lawine ermöglicht. Die gewonnen Daten helfen uns beispielsweise, Lawinensimulationsprogramme zu entwickeln und zu verbessern.» Die Forschung ziele darauf, die Vorgänge vor, während und nach der Lawinenauslösung besser zu verstehen. Dabei würden Feldmessungen, Laborexperimente und Computermodelle eingesetzt.
«In der Lawinenprognose wurden in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte gemacht», bestätigt Nora Zürcher, technische Co-Leiterin der Winteröffnung am Lukmanierpass und Spezialistin für Naturgefahren bei Gadola GmbH in Rabius (GR). «Dennoch sind Lawinenprognosen Vorhersagen von Naturereignissen, und deshalb nie zu hundert Prozent zutreffend.» Zudem handle es sich beim Lawinenbulletin um regionale Aussagen, welche eine Beurteilung von Einzelhängen oder konkreten Lawinenzügen nicht ersetzen könne. Nora Zürcher arbeitet im Bereich Naturgefahren ein breites Spektrum an Projekten aus – spezialisiert auf den Prozess Lawinen. Unter anderem erstellt sie Lawinengutachten für den Kanton Graubünden, einzelne Gemeinden, Bergbahnen und Verkehrsträger wie die Rhätische Bahn.
Die wichtigste Grundlage einer Gefahrenanalyse seien Dokumentationen von beobachteten Lawinenereignissen: «Dies gibt uns den Anhaltspunkt, welches Potenzial ein Lawinenzug aufweist.» Da es sich oft um grosse Wiederkehrintervalle handle, stöbere sie in alten Chroniken oder Kirchenbüchern, um auf wertvolle Hinweise zu stossen. «Ausgehend von diesen Ereignisdokumentationen simulieren wir Lawinen, um so auch das Ausmass nicht bereits beobachteter Ereignisse abzuschätzen. Und aus diesen Puzzleteilen erstellen wir schliesslich eine Gefahrenbeurteilung.» Derweil basiert die Planung von Sicherheitsmassnahmen im Bereich Naturgefahren auf Risikobeurteilung. «Es wird abgeschätzt, welche Risiken an bestimmten Stellen entlang von Verkehrswegen oder im Siedlungsbereich aufgrund von Lawinen zu erwarten sind», führt Nora Zürcher aus. Anschliessend werde evaluiert, ob Massnahmen möglich seien, um die Risiken zu minimieren und ob sie aus ökonomischer Sicht Sinn ergeben.
In den Anrissgebieten können sogenannte Stützverbauungen aus Stahl oder auch Schneenetze verhindern, dass sich Lawinen lösen. «Entgegen der weitverbreiteten Annahme können Lawinenverbauungen aber keine Lawine aufhalten, sondern sie haben das Ziel, Lawinenanrisse zu verhindern», erklärt Nora Zürcher. «Durch Stahl- und Holzwerke wird die Schneedecke einerseits unterbrochen um zusammenhängende Schneebretter zu verhindern, andererseits wird die Schneedecke abgestützt und somit im Anrissbereich zurückgehalten.» Wenn dennoch die Gefahr eines Lawinenabgangs droht, besteht die Möglichkeit, Schneebretter kontrolliert abzusprengen. Es existieren diverse Methoden der künstlichen Auslösung wie Handsprengungen, Helikoptersprengungen, Einsatz von Geschossen oder festinstallierte Auslösevorrichtungen. Dabei gilt aber immer das gleiche Prinzip: Bei der künstlichen Lawinenauslösung wird im Anrissgebiet eine Sprengladung oder ein explosives Gasgemisch gezündet, was zu einer Druckwelle und damit zu einer Zusatzbelastung der Schneedecke führt. Durch den entstandenen Druck breitet sich der Bruch in der Schneedecke aus, und das Schneebrett über der gebrochenen Schicht rutscht ab.
Entscheidend für den Erfolg künstlicher Lawinenauslösung sind der Zeitpunkt der Sprengung und der Ort der Platzierung der Sprengladung. Beide Kriterien bestimmen die Wahrscheinlichkeit der Auslösung einer Lawine und die Begrenzung des Schadenspotenzials. Tönt relativ simpel, ist aber kein leichtes Unterfangen: Wird der Entschluss zur künstlichen Auslösung zu früh getroffen, so ist keineswegs gewährleistet, dass die Lawine tatsächlich abgeht. Wartet man mit der Entscheidung hingegen zu lange, kann ein kontrollierter Abgang der Lawine nicht mehr garantiert werden und das zu erwartende Schadenspotenzial lässt sich nicht mehr abschätzen. Dass bei der künstlichen Lawinenauslösung auch ungewollt andere Lawinen, sogenannte Sekundärlawinen, verursacht werden, kann insbesondere bei einer sehr starken Detonation vorkommen, wenn auch relativ selten.
Otti Flepp weiss über Lawinensprengungen bestens Bescheid, schliesslich ist er Sicherheitsbeauftragter Winteröffnung des Lukmanierpasses – und in dieser Funktion die verantwortliche Person für Lawinensprengungen. «Teilweise sprengen wir noch von Hand, das heisst auf Skiern, aber grösstenteils per Helikopter», erklärt er. Gefährlich sei dies allerdings nicht: «Der Pilot entscheidet, ob man aufgrund der Windverhältnisse überhaupt fliegen kann, und ich teile ihm anschliessend mit, wo wir genau sprengen. In genauer Abstimmung am Zielort zünde ich die Sprengung elektronisch, und nun haben wir 1,5 Minuten Zeit, um uns aus der Zone zu begeben. Dies ist mehr als genug Zeit, auch auf Skiern.» Hierfür benutzt Otti Flepp stets 5 Kilogramm Sprengstoff.
Wie viele Sprengungen pro Winter durchgeführt würden, sei äusserst unterschiedlich: «Manchmal benötige ich bis zu 1000 Kilogramm, was 200 Sprengungen entspricht, andere Jahre – wie beispielsweise im Winter 2021/22 – sprenge ich nur 20 Mal.» Pro Saison steht ein gewisses Budget zur Verfügung, das für die notwenigen Massnahmen ausreichen muss, und finanziell unterstützt wird der Verein Pro Lukmanier von den Kantonen Graubünden und Tessin sowie mehreren Gemeinden.
In den letzten Jahren wurden fest installierte Sprengsysteme immer beliebter und sind heutzutage weit verbreitet. Damit lassen sich Explosionen mit Sprengstoff oder Gas über der Schneedecke erzeugen, sodass sie den Bruch möglichst effizient auslösen. Ein weiterer Vorteil: Diese Anlagen können aus sicherer Distanz, zu jeder Tageszeit und bei jeder Witterung bedient werden – so auch am Lukmanierpass. «Damit man vermeidet, dass eine zu grosse Schneemenge zu Tal stürzt, wird mit festinstallierten Auslösevorrichtungen quasi von Zuhause aus die Sprengung frühzeitig vorgenommen. Ist die Schneemenge aber zu gross, so sollte man von einer Sprengung ganz absehen», erläutert Otti Flepp. Fest installierte Sprenganlagen wurden im letzten Jahrzehnt stark weiterentwickelt, und in der Schweiz gibt es mittlerweile 300 solcher Anlagen. Sie werden immer häufiger mit neuen Technologien wie Lawinendetektionssystemen und Warn- und Alarmsystemen kombiniert, um die Sprengung zu überwachen und das gefährdete Gebiet zu kontrollieren.
Täglich wird vom SLF ein aktualisierter Lagebericht publiziert, welcher die Lawinensituation einer der fünf europäischen Lawinengefahrstufen zuordnet: gering, mässig, erheblich, gross und sehr gross. Dennoch ist und bleibt der grösste Risikofaktor der Mensch: In über 90 Prozent der Fälle hat die verunfallte Person die Lawine selbst ausgelöst, meistens abseits der gesicherten Pisten.
Die zunehmende touristische und sportliche Nutzung des alpinen Raums brachte in den letzten Jahrzehnten eine völlig neue Gruppe hervor, die heute den Grossteil der Lawinenopfer ausmacht – sei dies aus Leichtsinn, Fehlverhalten oder Unwissenheit. Nicht zu unterschätzen ist zudem die niedrige Hemmschwelle von Social-Media-Junkies. Das Nervenkitzel mit Schneebrettern wird absichtlich gesucht, dies auf der Helmkamera festgehalten und damit höchste Reichweiten und Likes erreicht. Die Lawine, seit Jahrtausenden gefürchtet, wird zum «coolen Event». Dies ist umso bedenklicher, da gerade Schneebrettlawinen für WintersportlerInnen besonders gefährlich sind. Bemerkenswerterweise geschehen die meisten Unfälle zudem bei Stufe 3 von 5 («erheblich»). Vor allem bei Stufe 3 ist einerseits die konkrete Gefahr schwer zu beurteilen, andererseits könnten bestimmte Touren durchaus unternommen werden und der Freerider denkt sich: «Easy, geht doch». Die Schwelle zur Selbstüberschätzung ist schmal.
Seit 1936 haben ungefähr 2000 Menschen in der Schweiz ihr Leben in einer Lawine verloren, schreibt das SLF. Bei einem Lawinenunfall ist rasches Handeln entscheidend und Zeit der alles entscheidende Faktor. Denn: Nur die Hälfte der komplett verschütteten Personen überlebt, und bereits nach 15 Minuten sinkt die Überlebenschance drastisch.
Die grösste Chance für das Überleben bietet die sogenannte Kameradenrettung – also die Suche und Bergung durch Gruppenmitglieder sofort nach dem Lawinenniedergang. Während des Lawinenabgangs ist es eminent wichtig, dass der Erfassungspunkt, beziehungsweise der Ort des Verschwindens, des Lawinenopfers genau beobachtet wird. Daraus ergibt sich der primäre Suchbereich, in dem die Suche beginnt – idealerweise mit Lawinensuchgerät, Sonde und Schaufel ausgestattet. Gleichzeitig mit der Kameradenrettung wird die Bergrettung alarmiert, welche wenn immer möglich mit dem Helikopter einfliegt. Trotzdem ist das Eintreffen am Unfallort häufig nicht rechtzeitig möglich, um das Opfer noch lebend aus dem Schnee befreien zu können. Falls die Kameradenrettung nicht zum Erfolg führt, liegt die grösste Hoffnung der Verschütteten bei unseren vierbeinigen Freunden. Trotz modernster Technik ist die Rettung mit Lawinenhunden eine der schnellsten Methoden, um Verschüttete zu finden. Denn ein Hund riecht bis zu 50mal besser als Menschen und wird dadurch oft zum Retter in buchstäblich letzter Sekunde.