Der längste Fluss der Schweiz ist ein Mythos und eine nie endende Inspirationsquelle. Wer schon einmal am Aareufer entlanggewandert ist, kennt seine vielschichtige Schönheit – von der Quelle bis zur Mündung.

Die Quellgletscher der Aare sind umgeben von den höchsten Gipfeln des Berner Oberlandes, die Paten gleich die Wiege des jungen Flusses säumen. Sie
entspringt als sanftes Rinnsal dem Ober- und Unteraargletscher, um alsdann auf einer Distanz von 30 Kilometern eine gewaltige Höhendifferenz von 1700 Metern zu bewältigen. Fortan ist der Verlauf der Aare ein unendliches Wechselspiel – schäumendes, kräftiges Fliessen, ruhiges Verweilen, die Transformation vom stürzenden Wildbach zum majestätischen Fluss. Sie lehrt uns, dass das Leben Strömungsgesetzen unterworfen ist, dass auch die Menschen sich stetig zu wandeln haben. Um – eben wie die Aare – «im Fluss» zu bleiben.

GEOLOGIE UND GLAZIOLOGIE ERLEBEN
Ein erster Vorläufer der Aare entstand etwa zeitgleich mit den Alpen, vor rund 30 Millionen Jahren. In der Folge hat die Aare etliche Male ihren Lauf geändert, wurde in Schluchten gezwängt und hat sich in Seen ergossen. So hat die Aare im Haslital bei Meiringen eine bis zu 200 Meter tiefe Schlucht durch die Kalkfelsen gegraben. Die Durchwanderung der ganzen Aareschlucht auf einem schmalen Holzweg dauert heute zirka 40 Minuten. Dieser mystische Ausflug lohnt sich: Leises Plätschern, lautes Rauschen, Gletscherwasser, Gletschermühlen, Kalksteinformationen – durch Tunnel und über Stege lassen sich Geologie und Glaziologie hautnah erleben. Dies ist nun im Sommer natürlich besonders erfrischend.

VEREINT MIT DEN OBERLÄNDER SEEN
In der Folge fliesst das Gewässer stetig bergab, um zuerst im Brienzer- und kurz darauf im Thunersee auszubreiten. Beide Seen lassen sich wunderbar mit dem Schiff erkunden, wobei die beiden Dampfschiffe «Lötschberg» (Brienzersee) oder «Blüemlisalp» (Thunersee) ein ganz besonderes Erlebnis versprechen. Zudem sei die äusserst schöne Strecke von Spiez nach Faulensee am Thunersee erwähnt. Internationale Berühmtheit erlangte die Gegend dank der deutschen Nationalmannschaft, die 1954 im Spiezer Hotel Belvédère logierte und als «Wunder von Bern» sensationell Fussball-Weltmeister wurde. Hier lässt es sich herrlich flanieren und die malerische Schönheit der Bergwelt direkt am See geniessen. Sehenswert ist auch die Stadt Thun, mit ihren zahlreichen Restaurants und Cafés, direkt an der Aare gelegen. Mehrheitlich erbaut wurde das Stadtbild im 12. Jahrhundert.

DIE AARE ALS SCHICKSAL VON BERN
Von Thun schliesslich nimmt die Aare die Bundeshauptstadt ins Visier. Im Sommer ist diese Strecke der Klassiker schlechthin, um mit einem bunten Gummiboot die rund 25 Kilometer nach Bern auf dem Wasser treibend zurückzulegen. Die bekannteste und wohl beliebteste aller Aareböötle-Strecken führt während drei bis fünf Stunden von Thun Schwäbis nach Bernüber die legendäre Uttiger Schwelle. Und in Bern selbst geniesst die Aare natürlich Kult-Status – schliesslich ist das Aareschwimmen der Volkssport Nummer 1 bei den Bernern. Und der Fluss ist mit der Geschichte Berns nicht zu trennen, war gar ihr Schicksal: Die Aareschlaufe gab die bauliche Entwicklung vor, bestimmteihren strategischen Wert, begrenzte und schützte die Stadt zugleich. Und wurde zur finsteren Urgewalt, wenn die Schneeschmelze und anhaltender Regen ihre Zuflüsse anschwellen liess.

DAS BIELER STADTBILD TRENNEND
Alsdann durchfliesst die Aare das Stadtgebiet von Bern in Nordrichtung und es mündet von links der Sulgebach ein, der das zwischen dem Gurten und dem Ulmizberg liegende Köniztal, – ein Naturreservat und beliebtes Naherholungsgebiet, entwässert. Nach Bern geht es über kanalisierte Strecken in den Bielersee. Die Aare trennt nun das imposante Bieler Stadtbild, bestehend aus modernen Hochhäusern, architektonischen Sehenswürdigkeiten und römischen Bauten, bei dem die deutsche und französische Sprachkultur miteinander verschmelzen.

SCHÖNSTE SCHIFFSTRECKE
Die Strecke zwischen Biel und Solothurn mit der BLS wird von manchen als die schönste Schiffstrecke der Schweiz bezeichnet. In der Tat trumpft diese gut dreistündige Strecke mit vielen Sehenswürdigkeiten auf – so zum Beispiel die Storchensiedlung Altreu, international bekannt als Pflege- und Brutstation für Weissstörche, wo zeitweise bis zu 100 Tiere leben. Auch das verträumt wirkende Landstädtchen Büren an der Aare gefällt durch seine historischen Bauten und durch seine Holzbrücke über den Aarelauf – ursprünglich aus dem Jahre 1275 stammend. Das charmante Städtchen ist durchaus sehenswert, schliesslich figuriert es als nationales Objekt im Bundesinventar für Kulturgüter.

AUF EWIG MIT DER AARE VERBUNDEN
Eine weitere Perle am Aareufer ist Solothurn. Mit ihren elf Kirchen und Kapellen gilt sie gar als schönste Barockstadt der Schweiz. Romantische Gässchen, altes Kopfsteinpflaster, eine pompöse Kathedrale und gediegene Patrizierhäuser bilden eine fantastische Kulisse; es scheint, als ob sich die Stadt stets im Sonntagsgewand präsentiert. Die architektonische Grandezza ist überall gut sicht- und spürbar. Wie kaum eine andere Stadt ist Solothurn mit der Aare verbunden: Hier erfüllt sich die Weihe der Stadt, das Martyrium ihrer Schutzpatrone Urs und Victor. Vom Statthalter des römischen Victus enthauptet und in die Aare gestürzt, entstiegen die beiden den Fluten, um sich – mit dem Kopf unter dem Arm – ins Grab zu legen; dort, wo heute die Peterskappelle steht. Der Aare verdankt die Stadt noch viele weitere Mythen und Legenden, wie jener der heiligen Verena.

WO DIE AARE RÜCKWÄRTS FLIESST
Nun bildet die Aare bis nach der Stadt Aarburg für über 10 km die Kantonsgrenze zwischen Solothurn (Nordufer) und Aargau. Das nächste Highlight folgt sogleich: Aarburg, wo die Festungsanlange majestätisch über der Aare thront. Die imposante Anlage entstand zu Beginn des 12. Jahrhunderts und wurde während der Berner Herrschaft zu einer mächtigen Festungsanlage ausgebaut. Im Schutze der Festung entwickelte sich das Städtchen zu einem bedeutenden Umschlagplatz. Der Gebäudekomplex ist als Kulturgut von nationaler Bedeutung eingestuft und dient heute als Jugendheim. Bei Aarburg vollzieht die Aare ein Naturspektakel allerster Güte: Die starke Strömung und das ruhige Wasser treffen mitten im Fluss aufeinander und lassen die Aare rückwärts fliessen. Dieses Spektakel trägt den Namen «Aarewaage» und ist ein einzigartiges Phänomen in Europa.

EINE OASE DER RUHE
An den Städten Olten und Aarau zieht die Aare auch in einem Rundbogen am Schloss Wildegg vorbei – einem authentischen Erlebnisort der Geschichte und der historischen Gartenkultur. Das prächtige Bauwerk aus dem 13. Jahrhundert wurde von den Habsburgern gegründet, und die wundervolle Gartenanlage mit Nutz-, Lust- und Rosengarten versprühen noch immer einen Hauch des adligen Lebensstils, während Ausstellungen im Museum und im Garten Einblicke in die Jagd und in die Gartenkultur geben. Der ProSpecieRara-Garten beherbergt alte und seltene Kulturpflanzen und ist im jahreszeitlichen Wechsel eine Oase der Ruhe. An Schlössern und Burgen mangelt es im Aargau bekanntlich nicht. Eines ist das Schloss Biberstein. Im 13. Jahrhundert von den Habsburgern erbaut, dient es heute als Wohn- und Arbeitsheim für Erwachsene mit Unterstützungsbedarf. Bad Schinznach ist bekannt für sein Thermalbad mit der stärksten Schwefelquelle der Schweiz. Sollte das Wetter auf der Tour mal nicht mitspielen, lohnt sich ein Besuch allemal.

VEREINT ZUM STROM
So führt die Aare nun bis nach Brugg. Dort verbindet sie sich im sogenannten Wasserschloss mit Limmat und Reuss – und die letzte Wegstrecke zum Rhein gemeinsam zurückzulegen. Die Aare wird zum Strom. Ideal zu bestaunen ist das Wasserspektakel nach einer dreistündigen Wanderung vom Gebentorfer Horn aus. In Böttstein lohnt sich ein Blick in den Innenhof des gleichnamigen Schlosses, das direkt an der Route liegt. Das Naturschutzgebiet «Klingnauer Stausee» braucht man zumindest Ornithologen nicht mehr vorzustellen – der künstlich gestaute See überrascht mit einer eindrücklichen Vogel- und Pflanzenwelt in herrlicher Landschaft.

DIE LETZTE REISE DER AARE
Von der Limmat und Reuss frisch gestärkt, tritt die Aare ihre letzte Reisestrecke an. Nach 292 Kilometern mündet sie bei Koblenz in den Rhein  – zusammen mit diesem wird das Wasser aus den Berner Alpen zum längsten europäischen Fluss, der sich hinter Rotterdam in die Nordsee ergiesst. Weshalb der Rhein allerdings nicht Aare heisst, ist bis heute Gegenstand von vielen
Diskussionen und Spekulationen. Fakt ist, dass die Aare grundsätzlich das grössere Einzugsgebiet hat und – insbesondere auch dank dem Zusammenschluss mit der Limmat und Reuss – auch mehr Wasser führt. Allerdings wird der Rhein seit jeher mehr verehrt, wird sein Name doch auf die keltische Bezeichnung «Renos» oder «Reinos» zurückgeführt, was so viel wie «Fluss» oder «Strom» bedeutet – also schlicht der Inbegriff dieses mächtigen Gewässers. Derweil wird in Deutschland kaum jemand bedauern, dass die trüben Fluten nicht nach der Aare benannt wurden. Und die Aare ihrerseits ist der Schweiz von der Grimsel bis hier an die Landesgrenze treu geblieben.
www.madeinbern.com, www.j3l.ch, www.solothurn-city.ch, www.aargautourismus.ch

Elisha Nicolas Schuetz