Jetzt röhren sie wieder um die Wette: Im Herbst begann die Brunftzeit der Rothirsche, und ihre urtümlichen Schreie durchdringen die Schweizer Wälder.

Elisha Nicolas Schuetz

Genau genommen wird der Rothirsch seinem Namen nur im Sommer gerecht. Dann verfärbt sich sein Fell so typisch rotbraun, dass man ihn schon von weitem sieht. Jetzt im Herbst wechselt sein Haarkleid ins Gräuliche, bevor es im Winter richtig dicht und struppig wird. Das grösste Wildtier der Schweiz wiegt bis zu 220 Kilogramm – gut doppelt so schwer wie ein Steinbock und acht Mal schwerer als ein Reh. Dies gilt zumindest für einen ausgewachsenen männlichen Hirsch, den Stier. Die weiblichen Hirsche, die Kühe, sind deutlich kleiner, bringen aber immer noch stattliche 130 Kilogramm auf die Waage.

Alle Jahre ein neues Geweih

Das charakteristischste Merkmal des eindrücklichen Wildtieres ist die majestätische Krone; notabene die grösste aller Hirsche. Sie kann bis zu acht Kilogramm wiegen und wird jedes Jahr aufs Neue gebildet – ein Kraftakt sondergleichen. So produziert ein Hirsch gut 150 Gramm Knochenmasse pro Tag. Rechtzeitig zu Beginn der Brunft im Herbst ist das Geweih für den Kampf einsatzbereit. Die Brunftzeit ist quasi das Jahreshighlight für die Hirsche, gilt es doch, sich gegen Rivalen zu behaupten und möglichst viele Hirschkühe im Brunftrudel zu decken. Bis zu fünfhundert Schreie kann ein brünftiger Hirsch pro Stunde ausstossen – ziemlich beeindruckend, nicht nur für seine Rivalen. Die Schreie erregen auch die Hirschkühe. So ist der Rothirsch im Herbst ständig damit beschäftigt die Konkurrenten in Schach zu halten und die Kühe zu decken. Eine enorme Anstrengung, und gleichzeitig frisst der Hirsch während der Brunft kaum etwas  – und verliert gut 20% seines Körpergewichts. Nach dem Ende der Brunft ziehen sich die männlichen Rothirsche wieder in ihr angestammtes Gebiet zurück, um sich noch vor Einbruch des Winters das verlorene Gewicht anzufressen. Der Geweihabwurf erfolgt dann im Winter zu einem Zeitpunkt, wenn der Testosteronspiegel seinen niedrigsten Stand erreicht hat.

(c) istock
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Dem Rausch nicht abgeneigt

Abgesehen von der Brunftzeit sind Rothirsche durchaus friedfertig, sozial und schliessen sich in Trupps oder Rudeln zusammen, getrennt nach Geschlecht. Weibliche Rudel sind Zusammenschlüsse mehrerer Mutterfamilien, Chefin des Rudels ist eine erfahrene Hirschkuh. Männliche Jungtiere verlassen die Mutterfamilie im Alter von zwei bis drei Jahren und schliessen sich zu einem Rudel von Hirsch-Stieren zusammen. Rotwild frisst hauptsächlich Gras, aber auch Kräuter, Getreide, Beeren, Pilze und Waldfrüchte stehen auf dem Speiseplan. So nehmen die Tiere täglich zwischen acht und zwanzig Kilogramm Grünäsung zu sich. Mit Genuss vertilgen sie übrigens auch Fliegenpilze; wohl wegen ihrer stark berauschenden Wirkung.

1850 in der Schweiz ausgerottet

Das edle Aussehen des Rothirsches war auch sein Fluch: Es hat dazu beigetragen, dass er ein beliebtes Jagdziel war und früher so manches Geweih als Trophäe an Schweizer Wänden hing. Der rigorose Abschuss sowie der Raubbau am Wald wurden ihm zum Verhängnis und sorgte dafür, dass er vor 170 Jahren hierzulande ausgerottet war. Mit dem eidgenössischen Jagdgesetz von 1875 wurden für die Rothirsche entscheidende Verbesserungen eingeführt, und so wanderten aus Österreich wieder erste Hirsche in den Kanton Graubünden ein. Über 30’000 Rothirsche soll es mittlerweile bei uns geben. Der Lebensraum des Tieres ist heute primär auf Wälder begrenzt. In der Vergangenheit lebten Rothirsche durchaus auch im offenen Gelände – schliesslich gilt er als typischer Fernwanderer. Er legt oft weite Strecken zwischen Tages- und Nachtquartier sowie zwischen Sommer- und Winterlebensraum zurück. Doch durch Autobahnen, Schienen und Siedlungen versperrte Wildtierkorridore hindern den Rothirsch heute oft an der Ausbreitung.

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Temporäre Kältestarre

Wurde der König des Waldes früher primär vom Wolf gejagt, fehlt es ihm heute an Feinden – mitunter ein Grund für die schnelle Erholung des Bestandes. So werden bis zu 20% der Bestände jährlich abgeschossen. Ohne die Jagd (unter Auflagen) würden sie ansonsten übermässig Almwiesen abgrasen, Zäune beschädigen und Triebe von jungen Bäumen fressen. Hirsche greifen auch beim Baum die saftführende Schicht unter der Rinde an, das Kambium, dadurch stirbt der Baum. Viele Waldbesitzer erachten es deshalb als nicht sinnvoll, wenn nicht sinnvoll, wenn die Waldwirtschaft durch Subventionen gefördert wird und zugleich der Staat Waldschäden durch Hirsche in Kauf nimmt. Die Winterlebensräume des Rothirsches werden dennoch durch Wildruhezonen geschützt. Denn um im Winter Energie zu sparen, fallen Rothirsche für einige Stunden am Tag in eine temporäre Kältestarre. Bei Störungen in diesen Phasen müssen Rothirsche in Sekundenbruchteilen direkt vom Sparmodus in den Vollbetrieb wechseln. Entsprechend hoch ist der Energieverschleiss.

rothirsch.org