Einst floh die Turiner Bourgeoisie vor der Sommerhitze in die Valli di Lanzo und fand Abkühlung in den schroffen Bergtälern. Als im 19. Jahrhundert der Alpentourismus begann, übten die drei Täler eine starke Sogwirkung auf das benachbarte Turin aus und waren eine Pionierregion des italienischen Alpinismus. Das ist aber längst vorbei. Einige Hotels aus der Belle Epoque und prachtvolle Jugendstilvillen zeugen noch von der Blütezeit, und eine Zuglinie mit pittoresken Bahnhöfen im Chaletstil führt von der 60 Kilometer entfernten Grossstadt Turin über Ciriè, Lanzo bis nach Ceres. In die einzelnen Täler geht es dann mit dem Bus.

Valli di Lanzo: Immer grünere Winter

Die Valli di Lanzo sind heute grüne und wilde Territorien, welche noch nicht überlaufen und eine Entdeckungsreise wert sind. Die Turiner schätzen das Naherholungsgebiet im Sommer. Doch im Winter gibt es, bedingt durch den Klimawandel, in den abgelegenen Tälern nur noch wenig und selten Schnee. Die Region rüstet sich deshalb für Winter, die immer grüner werden. Sie will Touristen zu anderen Outdoor-Aktivitäten als Abfahrt-Ski animieren und gleichzeitig andere Frühlings- und Herbstaktivitäten fördern – die Herbstsaison wird immer länger. Impulse und spannende Ideen erhofft sich die Region vom EU-Programm «BeyondSnow – Alpine Space», das 2022 begann und bis 2025 dauert (siehe Kasten). Es will die lokalen Tourismusverantwortlichen und die Bevölkerung auf der Suche nach innovativen Ideen einbeziehen und wird von der Europäischen Union unterstützt. Die zwei Ortschaften Ala di Stura und Balme nehmen als Testdestinationen am Projekt teil.

Valli di Lanzo
Die Valli di Lanzo haben sich ihre Authentizität bewahrt. © Marc Benedetti

Mit 79 Sonnenuhren

Die Valli di Lanzo haben sich ihre Authentizität bewahrt. Im Ala-Tal, der ersten Station dieser Reise, geht es auf schmalen Bergstrassen steil bergauf, in Dörfer, deren Häuser traditionell mit Steinplatten gedeckt sind. Im stilistischen Kontrast dazu steht die erste Herberge: das Grand Hotel Ala di Stura, das 1910 eröffnet wurde. Einst bot es als Fünf-Sterne-Haus 200 Zimmer an, war hochmodern – mit Telefon, eigener Post, Golfplatz. Das Grand Hotel beherbergte alles, was Rang und Namen hatte. Später setzte die Abwanderung im Tal ein. Das Haus war zeitweise verlassen und wurde 1975 wieder eröffnet. Heute ist das Grand Hotel ein gemütliches Drei-Sterne-Hotel mit einem kleinen Spa-Bereich, einem schönen Garten und ausgezeichneter Küche; der Hotelier Massimo Vannelli ist zugleich der Küchenchef.

Die Ortschaft Ala di Stura auf 1080 m ü. M. ist ferner für ihre Sonnenuhren bekannt; es gibt in den verschiedenen Ortsteilen insgesamt 79 davon. Ein Museum erklärt den Hintergrund der Uhren; das Tal war einst ein Handelsweg und eine Pilgerroute, so konnten sich die Menschen orientieren. Auch gibt es, wie in vielen italienischen Dörfern, kunstvolle Wandmalereien.

Der lokale Führer Maurizio Oggero hat den Schlüssel zu Familien-Kapellen, in deren Inneren man wunderschöne Fresken unbekannter Meister bewundern kann. Einzige Erschwernis: Es gibt kein Licht – man behilft sich mit dem Handy. Das Tal hat auch kulinarische Spezialitäten zu bieten. Einen Abstecher wert ist die Käserei Formaggeria Cà du Roc im Ortsteil Cresto. Zwei Frauen, Cinzia und Renata, produzieren dort erstklassigen Käse aus der Milch von Saanen-Ziegen, die sie aufziehen und halten. Die Produktion ist aufwändig. «Eine Ziege gibt nur zirka zweieinhalb Liter Milch am Tag», erklärt Renata den Gästen. Um den rezenten Geschmack des Käses zu mildern, verwenden die Käserinnen Lab vom Kalb. Die Formaggeria Cà du Roc erhält regelmässig Auszeichnungen für ihre Produkte.

Ussegglio verfügt über zwei Museen. © Marc Benedetti

Museum für die Bergführer

Balme liegt auf 1432 m ü. M. und hat noch 105 Einwohner. Das historische Ferienresort ist das letzte bewohnte Dorf im Tal. Eine Alternative zum schwierig gewordenen Ski alpin ist das Schneeschuhwandern. Bergführer Alessandro Vangi erwartet einen in Balme mit der nötigen Ausrüstung. «Die Gegend war wegen der nahen Grenze zu Frankreich einst ein Schmugglerparadies», erklärt Vangi. Die Schmuggler kannten die Berge wie ihre Westentasche; als die ersten Alpinisten kamen, wechselten sie den Beruf und geleiteten Touristen sicher in die Berge. Das kleine Ecomuseum delle Guide Alpine Antonio Castagneri, das im ehemaligen Rathaus und der Schulstube von Balme untergebracht ist, erinnert mit Fotos und Ausrüstungsgegenständen an die mutigen Bergführer und deren Geschichten. Der Bürgermeister Gianni Castagneri zeigt es Interessierten auf Voranmeldung.

Wandern oder eisklettern?

Zurück zur Schneeschuhwanderung: Bergführer Alessandro Vangi geleitet die Reisegruppe sicher von Balme hinauf auf das verschneite Hochplateau Pian delle Mussa mit einer kleinen Siedlung und einer Kirche. Dort eröffnet sich dem Besucher eine majestätische Bergkulisse. Am imposantesten ist der Bergriese Bessanese mit 3604 Metern Höhe. Wenige verirren sich im Winter nach Pian delle Mussa. Denn die Strasse ab Balme wird nicht gepfadet. Die meisten Restaurants sind im Winter geschlossen oder nur zeitweise offen. «Eine minimale Infrastruktur, wo man Skier ausleihen kann, wäre sehr hilfreich hier», sagt der Bergführer. Im Sommer ist mehr los. Laut Vangi starten von hier aus viele Rundwanderungen, bei denen man in Berghütten übernachten kann. «Im Sommer ist auch ein Bad in einem Gletschersee möglich.» Durch das Abschmelzen der Gletscher seien neue Bergseen entstanden. In Pian delle Mussa gibt es auch Eiswasserfälle zum Klettern.

Das Val di Viù ist ein beliebtes Wandergebiet. © Marc Benedetti

Ussegglio hat einiges zu bieten

Ein Talwechsel steht am nächsten Tag an: Ziel ist das Val di Viù und die Ortschaft Ussegglio. Sie liegt auf 1200 Metern Höhe in einer Ebene. Usseglio hat eine gut ausgebaute touristische Infrastruktur und trägt verschiedene Auszeichnungen – beispielsweise als besonders bienenfreundliche und blumenreiche Gemeinde sowie als «Città Slow» (lebt die Slow-Food-Philosophie). Ussegglio darf zudem das orange Band des italienischen Touring-Clubs tragen. Dies erläutert der zu später Stunde im Albergo erschienene, gutgelaunte Sindaco Piermario Grosso – der Bürgermeister – mit grosser Begeisterung.

In Ussegglio gibt es ein Hotel aus der Belle Epoque (dazu drei weitere Hotels, drei Berghütten und weitere Unterkünfte). Das Albergo Rocciamelone ist ein Jugendstilhotel, das 1925 eröffnet wurde. Das Haus hat seine Seele und Inneneinrichtung weitgehend bewahrt und man wähnt sich darin auf einer Zeitreise. Es ist seit der Gründung im Besitz derselben Familie; die freundliche junge Hotelière Nadia Cibrario führt das Haus heute in der vierten Generation. Ussegglio besteht aus acht Dörfern und hat noch rund 200 Einwohner.

Valli di Lanzo
«Città Slow»: In Ussegglio geht man es langsam an. © Marc Benedetti

Die lokale Führerin Chiara Beretta erzählt der Reisegruppe am nächsten Tag auf der Tour durchs Dorf, dass ihr Sohn das einzige Kind sei, das in den letzten Jahren geboren wurde – eine Dorfschule gibt es längst nicht mehr, dafür aber zwei Museen: Das Museo Civico «Arnaldo Tazzetti» im früheren Rat- und Schulhaus zeigt die Werke von Künstlern aus der Gegend, allen voran der Turiner Cesare Ferro Milone, der vor 100 Jahren die Bauern aus dem Tal malte. Zu entdecken anhand von Präparaten gibt es zudem die Tierwelt vom Steinbock bis zum Alpenschneehuhn sowie viele Gegenstände aus der bäuerlichen Tradition. Sehenswert ist ebenfalls das Ecomuseo di Mineralogia e Storia Locale, das den Bergbau und Mineralien zum Thema hat. In der Gegend wurde früher Kobalt abgebaut.

360-Grad-Panorama

Wer es exklusiv mag, kommt in Ussegglio ebenfalls auf seine Kosten: Die «Sky Lodge» wurde vor zwei Jahren eröffnet. Das Holzchalet ruht auf einem Felsen oberhalb des Dorfes und ist nur zu Fuss in zirka 40 Minuten erreichbar. Das luxuriös ausgestattete Chalet mit 360-Grad-Panorama ist überhängend gebaut und hat einen Glasboden, durch den man in den Abgrund sieht. Das Frühstück und das Abendessen wird vom Albergo Rocciamelone zu Fuss hinaufgebracht. Auch jenseits der Skipisten kann man im Winter im Val di Viù Schönes erleben. Schneeschuhwandern ist eine Möglichkeit. Es gibt eine Langlaufpiste, eine Eislaufbahn und eine Skischule für Kinder. Bergtouren von einem halben Tag bis sechs Tage, Bergsteigen und Eislaufklettern sind ebenfalls beliebt. Im Sommer ist Ussegglio mit seiner Umgebung ein beliebtes Wandergebiet. Es gibt ebenso spezielle Bike-Wege (und einen Fahrradverleih).

Ein Wolf in den Valli di Lanzo
Seit 1997 fühlt sich der Wolf im Piemont wieder heimisch. © Paologenoa, Shutterstock

Viele Wölfe in der Gegend

Die Valli di Lanzo sind nicht nur bei den Turinern beliebt. Auch die Wölfe scheinen Gefallen an ihnen gefunden zu haben. 1997  tauchte der erste im Piemont auf. Heute leben rund 900 Wölfe im Gebiet zwischen Ligurien, dem Piemont und dem Aostatal. Sie sind in Italien streng geschützt. Dennoch gibt es auch dort Probleme; Wölfe werden vergiftet, illegal geschossen oder von Autos überfahren. Hirtenhunde werden mit der Vermehrung des Raubtiers im Piemont immer wichtiger. Unweit des Passes Colle del Lyss gibt es eine «Schule», die besichtigt werden kann und wo die Hunde lernen, ihre Schafherde zu beschützen. Zudem nimmt die Gegend an einem EU-Projekt teil, in dem das Zusammenleben von Mensch und Wolf analysiert wird und Lösungen gesucht werden.

Die Hüterin des Susa-Tals

Wer in der Gegend weilt, sollte im benachbarten Susa-Tal die Sacra di San Michele besuchen. Von weit her sichtbar, thront dieser Klosterkomplex spektakulär auf einem Felsen. Er ist dem Erzengel Michael geweiht. Das zwischen 983 und 987 gebaute Kloster, wo in der Blütezeit über 1000 Mönche lebten, soll Inspiration für Umberto Ecos Roman «Der Name der Rose» gewesen sein. Besucher steigen ein steiles Treppenhaus hinauf (es gibt auch einen Lift). Oben angelangt, erwartet einen die atemberaubende Aussicht. In der schlichten, schönen Kirche aus dem 12. Jahrhundert befinden sich Sarkophage von Mitgliedern des Hauses Savoyen (die ehemalige italienische Königsfamilie).