Früh geht’s los – ich treffe Adrian Bollhalder um 7.00 Uhr im beschaulichen Nesslau. Hier hat der Forstbetrieb Obertoggenburg seinen Sitz – ein imposantes Gebäude, und wie es sich für einen solchen Betrieb gehört, ist es komplett aus Holz erbaut. Adrian Bollhalder ist Forstwartvorarbeiter und hat sich bereit erklärt, dass ich ihn einen Tag bei seiner Arbeit begleiten darf. Glücklicherweise herrscht prächtiges April-Wetter, doch wohlahnend, dass er es mit einem «Stadtkind» zu tun bekommt, wies er mich tags zuvor darauf hin, dass es in den höheren Lagen geschneit habe. Nichts mit Sneakers und T-Shirt – stattdessen warme Kleider und Schneematsch.

Zuerst treffen wir seinen Kollegen, Forstwart Marco Bollhalder, zur Lagebeurteilung. Der Forstbetrieb Obertoggenburg bewirtschaftet mit seinen 12 Mitarbeitern (780 Stellenprozente) insgesamt 1700 Hektaren Wald. Eine riesige Fläche, welche sich von der Schwägalp über Nesslau bis nach Wildhaus erstreckt. Heute gilt es, im Schutzwald Tobelwald oberhalb von Alt St. Johann Bäume zu fällen. Und zwar 40 an der Zahl. Ich staune und hätte nicht damit gerechnet, dass zwei Personen so viele Bäume an einem einzigen Tag fällen können. «Diese Bäume wurden vom zuständigen Revierförster und der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) gekennzeichnet. Die Anstalt gehört zum ETH-Bereich, wobei die Wissenschafter die Themen Schnee, Atmosphäre, Naturgefahren, Permafrost und Gebirgsökosysteme erforschen», gibt Adrian Bollhalder Auskunft, während wir im 4×4 den schmalen und kurvenreichen Wanderweg hinauf zum Schutzwald fahren. Die Schweizer Alpen sind quasi das natürliche Forschungslabor der WLS.

Gesunde Bäume fällen?
Dass es hier einen Schutzwald benötigt, ist offensichtlich: Die Hänge sind steil, das Tal ist relativ dicht besiedelt und einige Strassen befinden sich ziemlich nahe an den Steilhängen. In der Fachsprache heisst dies: das Schadenspotenzial ist vorhanden. «Der Wald hier schützt primär vor Lawinen, Steinschlägen und Erdrutschen», so Adrian Bollhalder. Damit der Wald effektiv Schutz bieten kann, muss er gepflegt werden. So kann auch Holz produziert und die Biodiversität im Wald gefördert werden, die Schutzfunktion ist dabei aber prioritär. Insbesondere die Verjüngung des Waldes ist dabei zentral. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen gezielt Bäume entfernt werden, um Platz und Licht für die neue Baumgeneration zu schaffen. Für den Laien mag diese Verjüngung des Waldes so aussehen, als würden willkürlich gesunde Bäume gefällt.

Lagebesprechung: Adrian Bollhalder (links) mit Marco Bollhalder am frühen Morgen.
Lagebesprechung: Adrian Bollhalder (links) mit Marco Bollhalder am frühen Morgen.

Verklärte Wahrnehmung
In der Tat sei diese Wahrnehmung ein Problem, wie Adrian Bollhalder sagt: «Manche Menschen sind der Meinung, man solle den Wald einfach sich selbst überlassen, und am besten überhaupt keine Bäume fällen. Die Akzeptanz unserer Arbeit leidet je länger je mehr, und dies ist äusserst bedauerlich.». Er verstehe durchaus,  dass man nicht in jedem Fall nachvollziehen könne, warum äusserlich gesunde Bäume gefällt wurden. Doch diese Pflege ist gerade für Schutzwälder zentral, denn dadurch verhindern sie das Anbrechen von Lawinen, stabilisieren Hänge, bremsen herabstürzende Steine und regulieren den Wasserhaushalt. «Sie sind die Voraussetzung, dass wir in vielen Gebieten der Schweiz überhaupt wohnen, wirtschaften und unsere Verkehrswege sicher benutzen können», hält er fest. Würde man auf die Pflege des Schutzwaldes verzichten, wäre dies schlicht nicht mehr der Fall. In der Schweiz sind etwa 25 Prozent der Eisenbahnlinien, 25 Prozent der Strassen und etwa 15 Prozent der Gebäude durch Naturgefahren bedroht. Abgesehen davon ist Holz ein wichtiger nachwachsender Rohstoff, der zur Energiegewinnung und zur Fertigung von Holzprodukten benötigt wird und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist.

Das Problem der Wildtiere
Wir steigen aus, folgen einige Meter dem Wanderweg bergauf und stechen dann über Stock und Stein in den Wald hinein. Und steil hinauf, sodass ich – trotz der frischen Temperaturen – im Handumdrehen zu schwitzen beginne. Adrian Bollhalder weist auf die vielen Markierungen – blau oder rot gekennzeichnete Bäume, wobei letztere zu fällen sind. Im Boden stecken diverse Aluprofile und Metallplättchen mit Nummern; hier sollen später Zäune errichtet werden. Der Zweck: Es soll erforscht werden, wie sich die natürliche Verjüngung der Bäume langfristig entwickelt. Der Fokus liegt dabei auf dem Einfluss der Kleinstandorte, den waldbaulichen Eingriffen sowie des Schalenwildes auf die Verjüngung. Denn die Wildtiere fressen Triebe, Baumknospen und Rinde von Jungbäumen, die in der Folge absterben. Dies hat zur Konsequenz, dass rund 40 Prozent der Schutzwälder deswegen nicht mehr richtig nachwachsen. Gibt es zu viel Wild in den Schweizer Wäldern? «Irgendwo müssen die Tiere ja leben. Meiner Meinung nach ist es eher ein Problem der Zersiedelung in Kombination mit der Landwirtschaft, der Industrie und dem Tourismus. Denn die Wildtiere müssen sich nun in einem begrenzten Gebiet aufhalten. Und ja, dementsprechend leben in diesen Wäldern sehr viele Tiere.»

Präzisionsarbeit: Das Fällen im steilen Gelände erfordert höchste Konzentration.
Präzisionsarbeit: Das Fällen im steilen Gelände erfordert höchste Konzentration.

Nie alleine unterwegs
Die beiden Forstwarte gehen nun getrennte Wege, Adrian Bollhalder etwas höher am Hang, Marco Bollhalder – die beiden sind übrigens nicht verwandt – ein wenig unterhalb, beide in deutlich sichtbarer Warnkleidung. Per Funk sind sie jedoch stets miteinander in Kontakt – Forstwarte arbeiten schliesslich nie alleine. Nebst Sicherheitsschuhen, Schnittschutzhose, Handschuhen und Helm ist dies der wichtigste Sicherheitsaspekt. Ich setze meinen Helm auf und folge Adrian Bollhalder, tunlichst darauf bedacht, auf dem glitschigen Untergrund nicht sogleich auszurutschen. Zunächst prüft er die markierten Bäume, schaut immer wieder gegen Himmel, wählt den ersten Baum aus und sägt mit geübtem Griff eine Fallkerbe heraus. Sie reicht einen Fünftel tief in den Stamm. «Mit dieser Fallkerbe definieren wir die Fällrichtung.»

«Aaaaachtung!»
Alsdann gibt mir Adrian Bollhalder die Anweisung, meinen Standort zu ändern, denn es bestehe die Möglichkeit, dass der Baum andere Äste mitreisse und diese dann zurückgeschleudert würden. «Das möchte ich natürlich verhindern, schliesslich gilt es ja die gesunden Bäume zu schützen und nicht zu beschädigen.» Ich schaue nach oben und frage mich, wie man solche Schäden verhindern kann – der Baum müsste ja fast Zentimeter genau in die gewünschte Richtung fallen. Dies erscheint mir fast  unmöglich. Mit einem mechanischen Ratschenkeil, den er in die Kerbe rammt, dreht Adrian Bollhalder, bis sich der Baum zu neigen beginnt und schreit dabei bereits laut «Achtung! » in den Wald hinein. Derweil weist er mich an, nicht dem fallenden Baum nach-, sondern nach oben zu schauen, denn dort laure die allfällige Gefahr. Und langsam neigt sich der imposante Baum bedrohlich, bevor er laut krachend zu Boden fällt. Und zwar exakt dort, wo ihn der Profi haben wollte.

«Aaaachtung!»: Der Baum fällt krachend zu Boden.
«Aaaachtung!»: Der Baum fällt krachend zu Boden.

Absolute Präzisionsarbeit
So nimmt sich der Forstwart nun Baum für Baum vor, prüft die Beschaffenheit und Neigung, berechnet die Fällrichtung, korrigiert die Fallkerbe ab und zu und setzt immer wieder die Motorsäge an. Die Genauigkeit ist erstaunlich; die Bäume fallen alle schön nebeneinander, obwohl sie sich zuvor in unterschiedliche Richtungen neigten. Absolute Präzisionsarbeit. Anschliessend misst Adrian Bollhalder den Baum, das heisst den Durchmesser, die Höhe, beziehungsweise die Länge und das daraus errechnete Volumen. Je nach der Anzahl Kubikmeter zersägt Adrian den Baum in mehrere Stücke und markiert die verschiedenen Stämme. Wieso das? «Da wir uns in steilem Gelände befinden, muss das Holz per Helikopter abtransportiert werden», führt er aus. «Deshalb müssen wir das Volumen, respektive das Gewicht, kennzeichnen, sodass die Tragfähigkeit des Helikopters optimal ausgelastet werden kann.» Für die heute gefällten Bäume werden schlussendlich 110 Helikopter-Rotationen benötigt. Alsdann werden die Äste jener Bäume abgesägt, welche ausserhalb der Versuchsfläche zu liegen kamen.

Der gefährlichste Beruf
So arbeiten Forstwarte tagein, tagaus bei Wind und Wetter in unzugänglichem Gelände mit schwerem Gerät. Falls es nicht der härteste Beruf der Schweiz ist, so ist es mit Bestimmtheit der gefährlichste, das zeigt die Statistik. Adrian Bollhalder gesteht, dass er sich stets Gedanken über das grosse Unfallrisiko in seinem Beruf mache. «Trotz aller Vorsichts- und Schutzmassnahmen besteht immer ein Restrisiko. Sei dies durch herabfallende Äste oder gefällte Bäume, die plötzlich in Bewegung geraten – und dabei sprechen wir von einem Gewicht von mehreren Tonnen.» In seinem Beruf sei man permanent am Beurteilen und Gefahren evaluieren, um entsprechende Vorgehensweisen zu treffen. «Einfach, damit ich abends wieder gesund und auf zwei Beinen nach Hause gehen kann.»

Weitere Informationen: wsl.ch / foag.ch

Text & Bilder: Elisha Nicolas Schuetz