Das Muggiotal im Südtessin befindet sich oft nicht auf dem Radar der Reisenden. Ein Fehler, denn das idyllische Tal gehört zu den schönsten der Schweiz.  Ganz im Süden des Tessins findet man noch eine wahre Perle der Natur: das Muggiotal. Das im Osten des Monte Generoso gelegene Tal ist touristisch kaum bekannt, umfahren doch die meisten Reisenden auf der Autobahn von Chiasso kommend dieses kleine Naturjuwel Richtung der Touristenmagnete Locarno oder Lugano – und verpassen so die Gelegenheit, dieses idyllische Tal zu entdecken.

WIE AUS EINEM BILDERBUCH

Die südlichste Region der Schweiz ist unglaublich reich an Geschichte und Kultur sowie einer atemberaubend schönen Landschaft. Das Muggiotal ist ein priviligiertes Fleckchen Erde: Der kristallklare Fluss Breggia durchfliesst das Tal mit seinen alten Kastanienhainen, Terrassenlandschaften und typischen Steinhäusern auf den sanften Hügeln, welche im geschützten Mikroklima das Wachstum einer subtropischen Flora ermöglichen. Alles ist hier eine Spur gemächlicher, gemütlicher und – ja, durchaus auch authentischer als anderswo. «Die Besonderheit und Schönheit unserer Heimat mit unseren Gästen zu teilen, ist unsere Motivation», führt Nadia Fontana – Lupi, Direktorin Mendrisiotto Tourismus, aus. Finanzieller Profit sei nicht oberste Priorität, man sei in erster Linie Botschafter der Region – aus Überzeugung. Und man glaubt ihr jedes Wort.

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MIT VIEL L IEBE UND HERZ

Denn grosse Hotelnamen sucht man hier vergebens. In der Tat befindet sich kein einziges Hotel im Tal – nur kleine Bed & Breakfasts, die liebevoll von den Gastgebern geführt werden. In unserem Fall ist dies Marisa, die eine solche Unterkunft im pittoresken Dörfchen Cabbio mit seinen rund 150 Einwohnern, ganz am Ende des Tals, führt. Man merkt sofort: Die Gastfreundschaft kommt von Herzen, die traditionellen Tessiner Gerichte werden mit viel Liebe gekocht und ihre Hilfsbereitschaft ist geradezu rührend. Kaum angekommen, fühlen wir uns wie zu Hause.

DIE BEDEUTUNG DER GRAA

Und zu entdecken gibt es viel. Nach dem Besuch des Monte Generoso samt spektakulärer Aussicht steht ein Rundgang durch das Dorf Cabbio an. Nun wird uns erklärt, was es mit den sogenannten «Graa» auf sich hat. «Die Kastanie war noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts in diesem Teil des Tessins ein wichtiges Grundnahrungsmittel », erläutert Mark Bertogliati, Kurator des Ethographischen Museums des Muggiotals (MEVM). «Um sie aber über einen längeren Zeitraum haltbar zu machen oder Mehl herzustellen, mussten sie getrocknet werden. Dies erfolgte in extra für diesen Zweck errichteten Räucherhäuschen, den so genannten «Grà» oder «Graa».» In der Tat werden diese Graa auch heute noch benutzt – und sind eine Touristenattraktion.

ALLES ANDERE ALS VERSTAUBT

Wie auch das Museum selbst. Denn es ist nicht typisch im Sinne einer reinen Sammlung von Gegenständen, sondern konzentriert sich primär und im weitesten Sinne auf das Territorium und das Kulturgut der Region. So lädt es eigentlich dazu ein, die Umgebung nach historischen, künstlerischen und ethnografischen Bedeutung zu erkunden – wie natürlich auch jene von landschaftlicher und naturalistischer Bedeutung. Das Museum befindet sich im Casa Cantoni, einem von Einwanderern aus Genua erbautem Haus aus dem 16. Jahrhundert.

Muggio Chiesa © MEVM

DAS KÜNSTLERISCHE ERBE VON GENUA

Die Cantonis hatten einen enormen Einfluss in der gesamten Region, schliesslich war Bernardo Cantoni ein Schüler Alessandro Alessis und Architekt der Strada Noeva in Genua; einem der prächtigsten Architektur-Beispiele der Renaissance. Die Familie Cantoni bildete ein Netzwerk mit anderen Familien des Tals und durch den regen Austausch mit Arbeits-Immigranten aus Genua, entstanden imposante und künstlerisch bedeutsame Bauwerke. Unter anderem gehört die Fassade der Kirche San Salvatore, Pfarrkirche von Cabbio, dazu, welche von Simone Cantoni, damals berühmtester Tessiner Architekt und Cousin der Cantonis von Cabbio, geprägt wurde. Die vier Kapellen der Kirche wurden allesamt von Immigranten finanziert, und sind eine einmalige Kombination aus Neoklassizismus und Barock. Auch die Pfarrkirche San Lorenzo in Muggio, früher Drehund Angelpunkt des Tals, weist einen erheblichen Einfluss von Simone Cantoni auf. Baumeister war übrigens Schwager Giuseppe Fontana. «Infolgedessen besitzen wir einen Teil des künstlerischen Erbes von Genua», schmunzelt Bertogliati.

DIE MÜHLE VON BRUZELLA

In der Talsohle befinden sich Überreste zahlreicher Mühlen an den Ufern des Flusses Breggia. Das von der MEVM durchgeführte Inventar umfasst gar deren 25. Alsdann machen wir uns von Cabbio auf einen 30-minütigen Spaziergang, um die Mühle von Bruzella zu besichtigen. Sie ist seit 1996 wieder in Betrieb und wird von Irene Petraglio und Giuseppe Bernasconi unterhalten. Wie anno damals wird mithilfe der Wasserkraft über den Bewässerungsgraben die Wasserschaufel, das Eisenkassettenrad und somit der Übertragungsmechanismus in Gang gesetzt. So wird auch heute noch Mais gemahlen, welchen man direkt beim Mulino di Bruzella in Form von Rosso del Ticino, Polentamehl und Maiskekse erwerben kann. «Restaurants im ganzen Tessin, und sogar welche in Zürich, servieren mit unserem Mehl gekochte Polenta», berichtet Irene Petraglio nicht ohne Stolz, während sie uns den Mechanismus dieser alten Maschine mit ihren diversen Komponenten erklärt.

Ticino Turismo © Foto Milo Zanecchia

80 MILLIONEN JAHRE GESCHICHTE

Nicht minder interessant ist der Naturpark der Breggia (Parceo delle Gole della Breggia), zwischen Castel San Pietro, Balerna, Morbio Inferiore und Morbio Superiore am Südende des Tals gelegen. Er verläuft im tief eingegrabenen Flussbett der Breggia und ist insbesondere aus geologischer Sicht äusserst spannend. Unser Guide Ghisla Bottoni führt uns durch die Schlucht und zeigt uns die Zeugen der Geschichte. Denn dieser Ausflug wird zu einer wahren Zeitreise: Aufgrund von Wasserabtragungen trat eine Felsformation zutage, die die Periode zwischen dem Jura und dem Tertiär abdeckt. «Wir sprechen hier von 80 Millionen Jahren, wobei sich Zeugnisse der antiken Meere wie Fossilien sowie Reste von unterseeischen Lawinen im Gestein befinden», so Ghisla Bottoni. Rötliche Radiolariten, ein marines Sedimentgestein, das hauptsächlich aus mikrokristallinem Quarz besteht, sind ebenso eine geologische Besonderheit des Naturparks.

DER MAGEN KNURRT, DIE ZEIT RAST

Nach so vielen Wanderungen und Eindrücken knurrt der Magen. Wir schätzen uns glücklich, dass das Casa del Vino nur einen Fussmarsch entfernt liegt. Zu hausgemachter Pasta degustieren wir nun die edlen Tropfen der Region: Weisswein, Rosé und Rotwein. Schliesslich ist die Sonnenstube der Schweiz ja bekannt für ihre Weine; und im Weinkeller der Casa del Vino finden sich etliche Sorten von 45 Weinproduzenten der Region. ASSP Sommelier Marinella Maggetti begeistert mit ihrem Wissen um die feinen Tropfen. Aber plötzlich eilt es: Den Bus nach Mendrisio haben wir bereits verpasst, in zehn Minuten fährt unser Zug ab Balerna. Kurzerhand fährt Marinella mit dem Auto vor und rast uns zum Bahnhof. Wahrlich, ein Aufenthalt in diesem pittoresken Tal lässt einen völlig die Zeit vergessen. Ein gutes Zeichen. WWW.MENDRISIOTURISMO.CH

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