Wieder mal giesst es wie aus Kubeln. Ich bewege mich auf dem Karnischen Hohenweg, der als ≪schonste Mehrtageswanderung Osterreichs≫ gilt. Alles ist nass, von der Innensohle bis auf die Unterhose. Einen Zehnstunder hatte ich heute eingeplant, ab Feistritzer Alm bis ins Nassfeld. Doch als ich auf der Eggeralm in Rosis warme Stube der ≪Alten Kaserei≫ trete und da ein schones Ofenfeuer knistern sehe, ist es mit meiner Wanderlust vorbei. Kleider trocknen, warme Dusche und die heiss dampfende Suppe bringen den keifenden Verstand zum Schweigen. Fernwandern und nass, das ist definitiv keine gute Verbindung. Bald fullt Kuhgebimmel die schone Alm und beruhigt die strapazierten Nerven. Aus den Schornsteinen einiger Chalets steigt Rauch, Nebelschwaden ziehen durch die Fichtenwalder, bleiben hangen, ziehen mit dem Wind weiter oder losen sich auf. Zuweilen blinzelt auch schon wieder ein Sonnenstrahl durch das gleissende Weiss. Am Abend, in der gemutlichen Gasthofrunde bei ≪oan, zwoa Glaserl Zirbenschnaps≫ erzahlt eine Frau, Leute hatten auf dem Weg, wo ich hergekommen sei, zwei Baren gesichtet. Wiiie bitte, Karnische Alpen und Baren? Darauf bitte noch eine Zirbe! Ich bin auf dem Weg von Graz in die Schweiz, ins Val Mustair. Weil mir im Gegensatz zu den West- und Sudalpen eine Ostalpenquerung noch fehlte. Mit dem Guide ≪Alpenuberquerung Wien–Lago Maggiore≫ (aus dem Rother Verlag) in den Handen durchwandere ich die Steiermark, die slowenischen Karawanken und das grossartige Karstgebirge des Triglav, dann Osterreichs unfassbar schonen Karnischen Hohenweg, das UNESCO Weltnaturerbe Dolomiten und schliesslich den lieblichen Vinschgau. Gegen 750 Kilometer sinds mit gut 41’000 Hohenmetern hinauf und hinab, alles auf den offiziellen Wanderwegnetzen der jeweiligen Lander. Und dies in etwas uber 40 Tagen, die von viel Schweiss (und leider auch von viel Regen und Gewittern) begleitet sind.

Die Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt im Bleder See. © SHUTTERSTOCK

ZAHLREICHE HOHEPUNKTE

Doch Regen hin und her, Martin Marktl, der Autor des Wanderfuhrers, hat diese Ostalpenroute klug und vor allem auch hochst abwechslungsreich ausgetuftelt. Dazu mit zahlreichen Leckerbissen – zum Beispiel mit der Uberschreitung des aussichtsreichen Karawanken-Hauptkamms und spater der recht anspruchsvollen Direttissima uber Sloweniens spektakulares Karstmassiv Storzic mit einigen seil- und kettengesicherten Passagen. Trotz des felsigen Gelandes geben sich auf der imposantenPyramide vor allem an den Wochenenden zahlreiche Berg- und Wanderbegeisterte, jaganze Familien – die Kleinsten meist am Seil gefuhrt –, ein Stelldichein. Und: Praktisch alle sind sie helmbewehrt, was in SloweniensKarstgebirgen eine selbstverstandliche Praxisist (ich bin da grad die etwas peinliche Ausnahme…).och ubertroffen wird die eindruckliche Storzic-Szenerie Tage darauf vom grossartigenTriglav-Massiv, dem einzigen NationalparkSloweniens. Nicht umsonst gilt dieses als ≪eineder ganz besonderen Schonheiten Mitteleuropas≫, schwarmt Martin Marktl. Was fur dieMuslime Mekka ist, gilt auch hier: Auf dem 2864 Meter hohen Triglav, dem hochsten Bergdes Landes, musse jeder Slowene, jede Sloweninein mal im Leben gestanden sein. Auf meinerOstalpenquerung ist der Gipfelsturm zwar nichteingeplant – er konnte aber durchaus eingebaut werden. Doch ohnehin begeistert die Durchquerungdes einzigartigen Nationalparks vorbei ander idyllisch eingebetteten Sieben-Seen- (tatsachlich!)und der aussichtsreich gelegenen Zasavska-Hutte (2071 m, einem der Ausgangspunkteder Triglav-Besteigung) mit umwerfenden Landschaftspanoramen. Als Tipp: Wer es etwas ruhig angehen mochte, sollte diese sehr lange und hohen meterreiche Etappe mit einer Ubernachtung in einer der beiden grossartigg elegenen Berghutten einplanen. Ausser die einoder zwei Ruhetage waren schon kurz vorher im lebhaften Touristenmekka Bled eingebaut worden. Was sich lohnt, denn im weltbekannten Ort am gleichnamigen See mit seinen zahlreichen Hotels, Gaststatten, Eisdielen, Campingplatzen usw. lasst es sich wunderbar von den vorhergehenden gut drei Wanderwochen und den vielen Distanz- und Hohenmeterstrapazen erholen und fur alles noch Bevorstehende neue Kraft tanken.

«Die längste und schwierigste Distanz, die ein Mensch gehen kann, führt vom Hirn ins Herz.»

Denn nach dem Triglav – und dem Uberschreiten der italienischen Landesgrenze bei Tarvisio – folgt eine weitere attraktive Herausforderung: der Karnische Hohenweg. Auch diese Route ≪obendurch≫ ist – naturlich – ein landschaftlicher Leckerbissen. Der Weg folgt in Ost-West- (oder in umgekehrter) Richtung dem Karnischen Hauptkamm und somit der italienisch- osterreichischen Grenze; mehrere Fernwanderrouten, so auch die rote Via Alpina, schliessen sie zurecht in ihr Routennetz ein. Im Ersten Weltkrieg befand sich hier die Hauptfrontlinie zwischen Italien und Osterreich, was an diversen Stellen mit Bunkeranlagen und Schutzengraben unmissverstandlich ins Auge fallt. Kaum hat man bei Sexten den Karnischen Hohenweg – und damit auch Karnten –verlassen, betritt man schon wieder Leckerbissenboden. Denn es folgen die zackenreichen Dolomiten mit ihren imposanten Steilwanden und unfassbaren Gipfelpanoramen, die das Wanderprogramm nun eine Woche lang bestimmen. Und das beginnt gleich mit einem Paukenschlag: mit der Passage am gerollreichen Wandfuss der weltberuhmten Drei Zinnen entlang. Die Woche von hier bis ans westliche Dolomiten-Ende (in Vols am Schlern) ist Bergspektakel pur. Dies nicht nur der faszinierenden Bergwelt wegen – die Dolomiten sind ein UNESCO Weltnaturerbe –, sondern auch dank einiger kuhn angelegter Klettersteige, welche die steilen Wande hautnah erleben lassen. Finaler Hohepunkt – und auch hochster Punkt der ganzen Tour – ist schliesslich in den Sudtiroler Dolomiten noch die Uberschreitung des 3152 Meter hohen Pizzo Boe, des hochsten Gipfels der Sella-Gruppe. Als Belohnung winkt auf seinem Haupt neben einer grandiosen Rundsicht – zum Greifen nah scheint zum Beispiel die (noch) gletscherbewehrte Marmolata – eine bewirtschaftete Hutte mit kuhlem (Antonius-)Bier vom Fass – was fur ein hochverdientes Salute!

Dolomiten: Die berühmten Drei Zinnen mit Dreizinnenhütte. © SHUTTERSTOCK

ZU FUSS HALT DIE SEELE SCHRITT

Hunderte von Kilometern zu Fuss mit einem Minimum an Utensilien am Rucken, die es zum Uberleben braucht: Warum nimmt jemand so etwas auf sich? Einfach darum! Mit dem ≪Weg als Ziel≫, wie ein oft verwendetes Zitat besagt. Weitwandern heisst: Ohne Eile vorwartsschreiten, neue Menschen treffen, schone Landschaften durchmessen, an ruhigen Gewassern entlang, durch zauberhaft duftende Walder, uber Grenzen, Grenzen der Psyche auch. Weitwie auch Pilgerwanderungen lassen die Gedanken frei schweifen – und davonziehen – und schaffen so Platz fur neue Ideen. Sie sind ein wunderbares Mittel, das Antworten auf offene Lebensfragen finden und neue Ziele suchen hilft. Wer mit nur dem unterwegs ist, was am Rucken Platz findet, muss vorher Ballast ablegen. Ballast, der nicht nur den Korper, sondern auch die Psyche belastet. Unvermittelt fuhlt man sich als Wolf oder als Wiesel, fliegt hoch wie der Adler, blickt tief und weit auf schroffe Felswande und gezackte Grate, in vermeintlich ewige Eisstrome und graue Weiten. Bestaunt die als Gischt zu Tal donnernden Bache, die sich in der Tiefe finden, vereinen und gemeinsam weiterziehen, gleichsam symbolhaft fur unser eigenes Leben. Auch wir Wanderer ziehen stetig weiter auf unserem Weg, der im Gehen entsteht und den wir zurucklassen, als waren wir nie dagewesen. Zugegeben, die Philosophie ist nicht jedermanns Sache.

HINWEISE ZUR OSTALPENROUTE

Die hier beschriebene, sehr attraktive  Ostalpenüberquerung des deutschen Wanderautors Martin Marktl von Wien bis zum Lago Maggiore umfasst insgesamt 70  Etappen (etwa 1300 km). Der Autor dieses Berichtes ist sie von Graz bis an die Schweizer Grenze im Vinschgau/Val Müstair gewandert. Sie folgt zu grossen Teilen verschiedenen bekannten Fernwanderrouten – wie der Via Alpina, dem Slowenischen Alpenweg, dem Karnischen Höhenweg, dem Vinschger Höhenweg usw. Die Route berücksichtigt ausschliesslich die markierten Wanderwegnetze der jeweiligen Länder und ist somit ohne grosse Schwierigkeiten machbar. Allerdings erfordern einige Etappen Trittsicherheit und Schwindelfreiheit (Schwierigkeit T3 der SAC-Wanderskala). Zu bewältigen sind gegen 750 Kilometer und über 40’000 Höhenmeter hinauf und hinab. Die höheren Passübergänge sind normalerweise ab Mitte Juni schneefrei. Übernachtet wird in Bergresp. Alpenvereinshütten (offen ab ca. Juni bis Oktober), Hotels, Pensionen oder – falls ein Zelt oder Tarp dabei ist – auf Campingplätzen. Alle Details finden sich im handlichen Wanderführer «Alpenüberquerung Wien–Lago Maggiore» von Martin Marktl aus dem Rother Verlag (mit GPS-Tracks sowie zu jeder Etappe ausführlichem Beschrieb, Übernachtungsmöglichkeiten und Wanderkarte 1:75000).

Tipps:

  • In den (Hoch-)Sommermonaten sind die Hütten vor allem auf dem Karnischen Höhenweg und sowieso in den Dolomiten oft ausgebucht. Darum unbedingt im Voraus reservieren!
  • Mitglieder von Bergsportvereinen profitieren in den Berghütten der jeweiligen Alpen-Clubs von einer Ermässigung.
  • Das freie Zelten in National- und Naturparks ist verboten (abgesehen von Notbiwaks).
  • Wer die ganze Alpenüberquerung von Wien bis ans Mittelmeer ins Auge fasst, kann für die Westalpen (Piemont und Ligurien) die (anspruchsvolle) Grande Traversata delle Alpi GTA anhängen (ein Wanderführer dazu ist ebenfalls im Rother Verlag erschienen).
  • Euronotrufnummer ist 112.

www.slovenia.info