Nur dank einer List von gewieften Naturfreunden ist der Steinbock in der Schweiz wieder heimisch. Allerdings handelt es sich um ein genetisches Langzeitexperiment.

Der Alpensteinbock (Capra ibex) ist sicherlich eines der eindrucksvollsten Tiere unserer Bergwelt. Kaum vorstellbar, dass der Inbegriff der Schweizer Bergfauna zu Beginn des 20. Jahrhunderts in
der Schweiz komplett ausgerottet war. Und dies notabene seit 1650. Auch in den Nachbarländern schien das Schicksal des Steinbocks besiegelt – lediglich im geschützten Jagdbezirk des
italienischen Königs Vittorio Emanuele III., im Aostatal, tummelte sich noch eine kleine Population. Der Bundesrat war damals dem Vernehmen nach bestrebt, die Wildziegenart wieder in der Schweiz anzusiedeln und ersuchte den italienischen Monarchen um eine Lieferung von einigen wenigen Tieren. Historisch belegt ist dies allerdings nicht. Klar ist: Eine Steinbock-Lieferung des italienischen Königs erfolgte nie.

SCHMUGGEL MIT SEGEN DES BUNDES

Statt hierzulande wehmütig einen Abgesang auf den «König der Alpen» anzustimmen, handelten Schweizer Naturfreunde beherzt – wenn auch illegal – und schmuggelten ein paar Tiere
kurzerhand über die Grenze. Die gestohlenen Steinböcke kamen in den Wildpark Peter und Paul im Kanton St. Gallen, wurden dort aufgezogen und auf die Freilassung vorbereitet. Ab
1911 wurden die Tiere dann im Weisstannental wieder ausgesetzt. Von 1906 bis 1933 gelangten so insgesamt 59 geschmuggelte Kitze aus dem Aostatal nach St. Gallen. Der Bundesrat deckte
die Aktion, ja finanzierte später auch den Kauf der illegalen Kitze. Das Eidgenössische Departement des Innern gab den Zöllnern sogar den Auftrag, die Schmuggler gewähren zu lassen.
Dass der Bund das gesetzeswidrige WildparkProjekt unterstützte, hatte wohl auch seinen Beweggrund im ersten Schweizer Jagdgesetz von 1875: Dort hatte das Parlament die Wiederansiedlung des Steinbocks explizit als Ziel formuliert. So nahm die Wiederansiedlung des Steinbocks ihren Lauf. Bis 1977 standen die Steinböcke in der Schweiz unter Schutz, seither dürfen sie wieder gejagt werden.
Die heutige Population von rund 15’000 Tieren geht also auf einige wenige Exemplare aus dem Aostatal zurück; und dementsprechend gering ist die genetische Vielfalt. Die Wiederansiedlung des Steinbocks ist also ein genetisches Langzeitexperiment. Denn: in den wenigen Zuchttieren steckte seit Beginn des Projekts bloss ein Bruchteil der ohnehin schon stark geschrumpften  Gendiversität des Alpensteinbocks. Dieser Prozess wiederholte sich bei jeder neuen Koloniegründung. Da es sich grundsätzlich um Inzucht handelte, ging man bewusst das Risiko ein, dass bestimmte Gene nicht in die nächste Generation der Tiere gelangten – je weniger Individuen sich an der Fortpflanzung beteiligen, desto höher das Risiko.

INZUCHT FÜHRT ZU PROBLEMEN

Die typischen Eigenschaften von Inzucht – eine verminderte Immunabwehr, genetische Defekte oder eine sinkende Anpassungsfähigkeit – machen deshalb dem Bündner Wappentier zu
schaffen. Da die genetische Basis des Steinwilds äusserst schmal ist, sind die Tiere anfällig auf vielerlei Krankheiten. Darum machen Ansiedlungen auch in der heutigen Zeit noch Sinn, vor
allem zwecks Blutauffrischung der Population.

Momentan denkt auch der Kanton Bern laut über eine Auswilderung am Stockhorn nach. Einerseits würde so die Biodiversität der Region gefördert werden und andererseits würde der Steinbock als Inbegriff schweizerischer Bergfauna auch Touristen anlocken. Allerdings: Die Auswilderung soll nicht primär aus touristischen Überlegungen erfolgen – man wolle «keinen Zoo» am Stockhorn, liess sich der Berner Jagdinspektor vergangenes Jahr zitieren. Ein weiterer Knackpunkt: Es ist keineswegs gesichert, dass der Steinbock auch auf den tiefen Voralpengipfeln überleben kann. Dies gilt es nun zu prüfen. Klappt die Ansiedlung der Steinböcke am Stockhorn, wäre dies die vierzehnte Kolonie im Kanton Bern. Solche Ansiedlungen finden in der Schweiz immer
wieder statt, in Bern zuletzt im Diemtigtal in den Jahren 2001, 2002 und 2003. Mit beachtlichem Erfolg: Heute leben dort über 100 Steinböcke.

FAKTEN ZUM ALPENSTEINBOCK

Oberhalb der Waldgrenze besiedelt der äusserst geschickte Kletterer Gebiete bis zu 3500 Meter über Meer, und hält sich primär zurückgezogen in steilen Geröllhalden oder Feldwänden auf. Auf der Suche nach Gräser und Kräuter steigt er zuweilen gegen Abend aber auch in tiefergelegene Wiesen herab. Seine Anpassungsfähigkeit an die extremen Bedingungen ist beeindruckend: Um im
Winter Energie zu sparen, schlägt sein Herz 60% weniger schnell als im Sommer – das heisst 30 bis 40 Mal. Die Hufe haben aussen einen harten Rand und innen weiche, haftende Ballen, die auch im steilsten Gelände einen guten Halt ermöglichen. Ein Steinbock kann aus dem Stand mehrere Meter hoch und weit springen.

Ein Alpensteinbock hat im Durchschnitt eine Kopfrumpflänge von 150cm und eine Schulterhöhe von 90cm. Die weiblichen Tiere (Steingeissen) sind bedeutend zierlicher als die Böcke. Ihre Hörner werden lediglich 35cm lang, wobei die der männlichen Artgenossen bis zu einem Meter lang werden können und bis zu 20 Kilogramm wiegen. Das Alter der Steinböcke kann man anhand der Jahrringe auf der Hinterseite des Hornes gut erkennen; das übrigens zeitlebens weiterwächst.

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